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Dunkle Wolken am politischen Horizont Belgiens

Von Michael Stabenow

Etwas mehr als ein Jahr trennt Belgien noch von den Parlamentswahlen. Keine Frage: die Nervosität in den Parteizentralen steigt. Vier der sieben Parteien, die seit Herbst 2020 in Brüssel die sogenannte Vivaldi-Koalition bilden, müssen mit empfindlichen Stimmen- und Mandatsverlusten rechnen – mit 82 der 150 Mandaten könnte das Bündnis aber weiter über eine Parlamentsmehrheit verfügen. Darauf deuten zumindest die jetzt veröffentlichten Ergebnisse der jüngsten im Auftrag der Zeitungen Het Laatste Nieuws und Le Soir sowie der Fernsehsender VTM und RTL vorgenommenen Ipsos-Meinungsumfrage hin.

Die Ipsos-Umfragen gehören zu den wenigen Gradmessern für die politische Stimmungslage im Land. Während die Sozialisten beider Landesteile (PS und Vooruit) derzeit auf Mandatszuwächse gegenüber 2019 und die frankophonen Liberalen (MR) auf unveränderte Sitzzahlen hoffen können, drohen den Grünen (Ecolo und Groen), den flämischen Christdemokraten (CD&V) sowie insbesondere den flämischen Liberalen (Opern VLD) von Premierminister Alexander De Croo deutliche Verluste (DE GROTE PEILING. Kwart van Vlamingen zou voor Vlaams Belang stemmen, beste peiling in anderhalf jaar voor CD&V | De Grote Peiling | hln.be sowie Grand Baromètre: voici combien de Belges font confiance au gouvernement fédéral et à quoi ressemblerait la Chambre si on votait demain | RTL Info).

Höhenflug der Nationalisten in Flandern

Ein nuancierteres Bild ergibt sich, wenn man die jüngste Entwicklung in den Umfragen betrachtet. Der rechtsradikale Vlaams Belang setzt seinen demoskopischen Höhenflug fort. Mit einem Stimmenanteil von 25 Prozent in Flandern gegenüber 25,5 Prozent bei der vorangegangen Umfrage im Spätherbst 2022 liegt die Partei nach wie vor deutlich vor der ebenfalls flämisch-nationalistischen, aber gemäßigteren Neu-Flämischen Allianz (N-VA). Die Partei des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever büßt gegenüber der vorangegangenen Umfrage 0,4 Prozentpunkte ein und kann mit 22 Prozent gegenüber 25,5 Prozent im Mai 2019 rechnen.

Der Vlaams Belang käme demnach mit einem Stimmenzuwachs um 6,3 Prozentpunkte auf 24 statt derzeit 18 Sitze. Die N-VA verlöre fünf ihrer derzeit 25 Mandate. Rein rechnerisch hätten die beiden nach einem unabhängigen Flandern strebenden Parteien gemeinsam 44 und damit die Hälfte der 88 „flämischen“ Sitze in der Abgeordnetenkammer. Aber das ist derzeit nur ein Zahlenspiel: N-VA-Parteichef De Wever lehnt ein politisches Bündnis mit dem fremdenfeindlichen Vlaams Belang konsequent ab.

Konkurrenz vom politisch äußersten linken Rand

Dennoch könnten sich die Verhandlungen über die Bildung einer Regierung nach den Wahlen im Mai 2024 noch länger als jene 16 Monate hinziehen, die bis zur Bildung der Vivaldi-Koalition im Herbst 2020 vergingen. Auch vom linken politischen Rand droht den Regierungsparteien in und beiderseits der politischen Mitte Ungemach. Die populistische Parti du Travail de Belgique/Partij van de Arbeid (PTB/PVDA) unter ihrem perfekt zweisprachigen und rhetorisch begabten Vorsitzenden Raoul Hedebouw hat in Wallonien den dort einst übermächtigen Sozialisten viel Wasser abgegraben.

Im Südteil des Landes liegt die PTB/PVDA in der jüngsten Umfrage hinter Sozialisten (25,5 Prozent) und Liberalen (18,5 Prozent) bei 17,6 Prozent und hat damit die Grünen (12,8 Prozent) überflügelt. In der Region Brüssel steht sie mit 19,4 Prozent nur 0,4 Prozentpunkte hinter den führenden Liberalen. Und auch in Flandern rangieren die Linkspopulisten mit 8 Prozent jetzt 0,6 Prozentpunkte vor den schwächelnden Grünen.

Dilemma für die flämischen Liberalen

Eine Erklärung für die derzeit den flämischen Liberalen drohende verheerende Wahlniederlage könnte in der Person des Premierministers Alexander De Croo liegen. In Brüssel führt er die Liste der beliebtesten Politiker an, im französischsprachigen Wallonien steht er an dritter Stelle. In seiner flämischen Heimat rangiert er hinter De Wever, Conner Rousseau, dem Vorsitzenden der Sozialisten (Vooruit) und Vlaams Belang-Parteichef Tom Van Grieken unter ferner liefen.

Zum Verhängnis droht dem Regierungschef und seiner Partei zu werden, dass De Croo sich stark als Vermittler zwischen den Positionen der sehr unterschiedlichen Vivaldi-Partner versteht. Das bringt ihm auf französischsprachiger Seite Sympathien ein, die der in Flandern zu Wahl stehenden Open VLD freilich wenig helfen dürften. Im niederländischsprachigen Landesteil sieht sich De Croo hingegen häufiger dem Vorwurf ausgesetzt, zu nachgiebig gegenüber den frankophonen Parteien zu sein und damit nicht hartnäckig genug „flämische“ Interessen zu vertreten. Laut Ipsos-Meinungsumfrage muss Open VLD derzeit den Verlust eines Drittels ihrer derzeit zwölf Parlamentssitze befürchten.

Der MR, die französischsprachige liberale Schwesterpartei, scheint zwar im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2019 recht stabil in den Meinungsumfragen zu liegen. Doch der Trend weist zuletzt nach unten, nachdem es zwischen den oft auf flotte Sprüche setzenden Parteichef Georges-Louis Bouchez und dem als politisch gemäßigter geltenden ehemaligen wallonischen Finanz- und Haushaltsminister Jean-Luc Crucke zum Zerwürfnis gekommen ist. Crucke ist in die Partei „Les Engagés“, Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), übergetreten. Dass es mit dieser Partei in den Umfragen zuletzt bergauf und beim MR bergab gegangen ist, könnte auch mit der Personalie Jean-Luc Crucke zu tun haben.

Kein gutes Omen für die Zukunft des Landes

Meinungsumfragen waren und sind jedoch nur Momentaufnahmen der politischen Stimmung im Land. Der Vivaldi-Koalition bleiben noch einige Monate Zeit, auf ihren Baustellen – nicht zuletzt der angestrebten Steuerreform – voranzukommen. Aktuell ist die Atmosphäre durch den Konflikt um den Supermarktriesen Delhaize angeheizt. Viel verfolgt werden im französischsprachigen Landesteil zudem die Bilder von den Protesten in Frankreich gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Auch wenn die Verhältnisse in beiden Ländern nicht zu vergleichen sind, schwappt einiges an Emotionen auch nach Belgien über.

Absehbar ist jedoch schon jetzt, dass die Regierungsbildung nach der nächsten Wahl sich sehr komplex gestalten wird. Eine Neuauflage der Vivaldi-Koalition, auch wenn dies rechnerisch möglich erscheint, dürfte abermals nicht die Wunschkonstellation sein. Nicht nur Liberale und Grüne, auch die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) werden sich angesichts der politischen Stimmung fragen, ob der Einstieg in die Siebener-Koalition nicht ein Fehler war. Und wie ein Damokles-Schwert hängt über dem Land die Frage nach der politischen Zukunft. Aus der Absicht, den Boden für einen weiteren staatlichen Umbau Belgiens zu bereiten, ist bisher nur Stückwerk geworden – kein gutes Omen für die nächsten Wahlen und die Zeit danach.

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