Von Reinhard Boest
„Wie lange soll das noch so weitergehen?“ Diese Frage stellen sich wahrscheinlich viele Brüsseler angesichts der Tatsache, dass die Hauptstadtregion auch ein Jahr und drei Wochen nach den Wahlen am 9. Juni 2024 noch immer keine neue Regierung hat. Denn die Probleme, die einer Lösung harren, werden nicht weniger – im Gegenteil. Der Region geht das Geld aus, wichtige Vorhaben stehen weiter still, und wie man mit den Folgen umgehen will, die die Reformentscheidungen der föderalen Arizona-Koalition in der Arbeitsmarktpolitik für Brüssel haben werden, ist derzeit völlig offen.
Wenig überraschend war es daher, dass vor einigen Tagen wichtige Rating-Agenturen wie Fitch und Standard & Poor‘s die Kreditwürdigkeit der Region Brüssel-Hauptstadt um eine Stufe von A+ auf A zurückgesetzt haben (die sechste Stufe der bei AAA beginnenden Skala). Aber nur wenige hatten wohl damit gerechnet, dass es auch den Föderalstaat treffen würde: auch Belgien verliert eine Stufe von AA- auf jetzt A+. Und ein paar Tage später traf es auch die Region Flandern mit einer Einstufung AA- (statt bisher AA); auch wenn Flandern unter den belgischen Gebietskörperschaften weiter am besten dasteht, kritisierte der flämische Finanzminister Ben Weyts von den flämischen Nationalisten (N-VA) diese Entscheidung, mit der „Flandern für die schlechte Haushaltsführung in ganz Belgien mitbestraft werde“.
Am Fünf-Prozent-Ziel der NATO scheiden sich in der Koalition die Geister
Manche würden sagen, dass Belgien angesichts seiner chronischen Haushaltsprobleme und wiederholten Ermahnungen seitens der EU-Kommission noch glimpflich davon gekommen ist. Die aktuelle Diskussion über eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben im Zuge der neuen Zielwerte der NATO führt zu weiterer Verunsicherung. Einige Partner der Arizona-Koalition haben öffentlich Zweifel an weiter steigenden Ausgaben für Verteidigung geäußert. Sie beziehen sich dabei nicht zuletzt auf die bisher ungeklärte Frage, wie diese Mittel aufgebracht werden sollen.
Zusätzliche Schulden wie in Deutschland dürften für Belgien nicht in Betracht kommen. Steuererhöhungen oder Einsparungen an anderer Stelle dürften dagegen für Spannungen in der Koalition sorgen. Dennoch hat Premierminister Bart De Wever (N-VA) – anders etwa als sein spanischer Amtskollege Pedro Sànchez – jetzt beim NATO-Gipfel in Den Haag zugesagt, wie die anderen Mitgliedstaaten die Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, davon 3,5 Prozent für Rüstung. Schon in der Vergangenheit hate Belgien Mühe, die NATO-Ziele zu erreichen; so soll das 2014 für 2024 vereinbarte Ziel von zwei Prozent mit einer letzten Kraftanstrengung in diesem Jahr erreicht werden.
“Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden”
Für das neue, mit Blick auf 2035 vereinbarte Ziel von fünf Prozent der Wirtschaftsleistung setzt man erneut auf die Zeit: Verteidigungsminister Theo Francken (N-VA)von den flämischen Nationalisten räumt ein, dass es aktuell „unrealistisch“ sei; aber „man habe um Nachsicht gebeten, und das mit Erfolg“. Die jetzt von der Arizona-Regierung gezeigte Entschlossenheit werde honoriert. „Wir haben zehn Jahre Zeit, und Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden“, erläuterte Francken.
Aber die Reaktion aus der Koalition kam prompt: die flämischen Sozialisten von Vooruit forderten als „Gegenleistung“ für ihre Zustimmung zu einer Beschaffung von F35-Kampfflugzeugen für die belgische Luftwaffe, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Kapitalertragssteuer nun auch wirklich komme. Sowohl der Vooruit-Vizepremier Frank Vandenbroucke als auch Parteichef Conner Rousseau pochten darauf, und Minister Franken äußerte Verständnis. Dagegen hatten die frankophonen Liberalen (MR) als auch die Zentristen (Les Engagés) bei diesem Thema zuletzt auf der Bremse gestanden. Das Thema dürfte in der Koalition noch nicht ausgestanden sein.
Anhaltendes politisches Patt in der Hauptstadtregion Brüssel
Und wie geht es in Brüssel weiter? In den vergangenen Tagen hat man in den Medien wenig darüber gehört oder gelesen. Die von den frankophonen Sozialisten (PS) und Liberalen (MR) parallel (besser: gegeneinander) geführten Sondierungen (siehe Belgieninfo https://belgieninfo.net/bruesseler-regierungsverhandlungen-posse-oder-tragoedie/) waren offenbar nicht von Erfolg gekrönt.
Statt eine „progressive Koalition“ auf der Basis einer zahlenmäßig ermittelten Mehrheit im Regionalparlament zu zimmern, hat die Initiative des Brüsseler PS-Chefs Ahmed Laaouej anscheinend eher zu einem ernsten Zerwürfnis mit der flämischen Schwesterpartei Vooruit geführt. Man wirft sich gegenseitig Verrat vor: der PS droht damit, Vooruit-Kandidaten künftig nicht mehr auf die eigenen Wahllisten zu nehmen (was deren Wahlchancen deutlich mindern dürfte), und sogar über das Ende des gemeinsamen Parteisitzes im Brüsseler Boulevard de l‘Empereur wird gesprochen. Ob die linksradikale PTB/PVDA bei dem Projekt mitgemacht hätte, bleibt zweifelhaft. Ihr Parteichef Raoul Hedebouw wird wohl zunächst abwarten wollen, ob die Regierungsverantwortung, auf die man sich auf kommunaler Ebene mit PS und Grünen eingelassen hat, sich beim Wähler auszahlt, ehe man sich auf der regionalen Ebene engagiert.
Vorbehalte gegen “progressive Koalition” auch im linken Parteienspektrum
Auch die Grünen (Ecolo und Groen) haben sich an den Gesprächen nicht mit voller Überzeugung beteiligt. Der größte Unsicherheitsfaktor ist aber die Liste des ehemaligen Vooruit-Politikers Fouad Ahidar, die vor einem Jahr mit einem vor allem auf die muslimische Bevölkerung zielenden Programm auf Anhieb drei Sitze im Brüsseler Regionalparlament (und zahlreiche weitere in mehreren Brüsseler Gemeinden) gewann. Die französischsprachige Tageszeitung „Le Soir“ hat die Gespräche über eine „progressive“ Koalition zum Anlass genommen, einen genaueren Blick auf diese Formation zu werfen.
Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass auch nach einem Jahr eine klare politische Linie nicht erkennbar ist. Vor allem sieht sich das „Team Faoud Ahidar“ (TFA) „als weder rechts noch links“ und lehnt eine Trennung von Politik und Relgion weiter ab. Ob es auf dem Weg zu einer stabilen politischen Partei ist, erscheint derzeit eher zweifelhaft. Auf jeden Fall muss Ahmed Laaouej seine Hoffnung auf eine alternative Mehrheit wohl begraben.
Auf der anderen Seite war der Vorstoß des MR offenbar auch nicht erfolgreich, auf der Basis des – vor allem auf MR-Vorstellungen basierenden – Entwurfs eines Regierungsprogramms mit potentiellen Koalitionspartnern zu verhandeln. Auch auf der „rechten“ Seite wurden Differenzen erkennbar, sowohl was den Inhalt als auch was das Vorgehen betrifft.
Vorbehalte gegen Regierungsbeteiligung der N-VA
Die anderen frankophonen Parteien werfen dem MR vor allem vor, dass sie weiter auf einer Beteiligung der flämischen Nationalisten (N-VA) bestehe, denen der Autonomiestatus der Hauptstadtregion schon immer ein Dorn im Auge ist. Insbesondere die liberale Partei Défi, die an der noch amtierenden Regierung beteiligt ist, derzeit aber um das politische Überleben kämpft, wirft MR deswegen sogar „Verrat“ an der Sache der Frankophonen vor.
Es bleibt dabei: eine stabile Mehrheit für die Region ist nur erreichbar, wenn MR und PS sich daran beteiligen. Darüber waren sich beide eigentlich grundsätzlich im Juli 2024 einig. Aber das war, bevor sich herausstellte, dass es auf der niederländischsprachigen Seite des Parlaments eine Mehrheit nur unter Einbeziehung der N-VA gibt. Und nach dem komplizierten Statut der Hauptstadtregion bedarf es eben einer Mehrheit auf beiden Seiten des Hauses.
Die Folgen des politischen Stillstands sind auch im Alltag nicht zu übersehen
Man muss also weiter darauf hoffen, dass Französisch- und Niederländischsprachige endlich über ihren Schatten springen, ehe die finanziellen Probleme unbeherrschbar werden und wichtige Politikbereiche nicht mehr bedient werden können. Der Stillstand im Alltag ist auch daran abzulesen, dass die blau-gelben Baustellenabsperrungen inzwischen ein Dauerzustand geworden sind, sei es am Nordbahnhof und am Palais du Midi für die neue Metrolinie oder auch am Rond-Point Schuman (https://belgieninfo.net/der-automat-dein-freund-und-helfer/).
Stabile politische Verhältnisse lassen also in Belgien auch ein Jahr nach den Parlamentswahlen weiter auf sich warten. Aber warum sollte es hier anders sein als in vielen anderen europäischen Ländern? Man denke zum Beispiel nur an die aktuelle politische Entwicklung in Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Polen oder Rumänien.
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