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Der Automat – Dein Freund und Helfer

Presslufhämmer, defekte Rolltreppen, Geldnot, ein Bettelbrief und eine wichtige Erkenntnis im Herzen des Brüsseler EU-Viertels

Von Michael Stabenow

Keine Frage: Die Europäische Union ist in diesen stürmischen Zeiten der Weltpolitik gefordert. Um sich davon zu überzeugen, dass Europa mitten im Umbruch steckt, eine regelrechte Baustelle ist, muss man nicht im Internet herumsurfen oder, falls das noch zu den Gepflogenheiten gehören sollte, einen Blick in die Tageszeitung werfen. Es reicht, sich einfach ein wenig rund um den Brüsseler Schumanplatz umzusehen.

Ja, die Rolltreppe, die uns aus dem U-Bahnhof Schuman ans Tageslicht befördern sollte, steht, wie schon seit Monaten, still. Ohrenbetäubender Lärm begrüßt uns dagegen, als wir die 39 Stufen erklommen haben und, das Gebäude des Europäischen Rats im Rücken, einen Blick auf die andere Straßenseite zum in der Juni-Sonne schimmernden Berlaymont-Palast werfen wollen.

Nicht das Hauptgebäude der Europäischen Kommission, sondern ohrenbetäubende Presslufthämmer, Baufahrzeuge sowie emsige Arbeiter beherrschen die Szenerie. Unweigerlich kommt uns der Gedanke, dass der Krach einem guten Zweck dienen muss und nicht nur in den EU-Hauptgebäuden dafür Sorge getragen wird, dass hier, im Herzen des Brüsseler Europaviertels, Neues entstehen kann. Etwas weiter oben wird, ebenfalls begleitet von Höllenlärm, viel Staub und heiße Luft aufgewirbelt – wir fühlen uns irgendwie an die eine oder andere Pressekonferenz hinter den uns umgebenden Glasfassaden erinnert.

Eine blaugelbe Absperrung versagt uns den direkten Weg zum etwas höher gelegenen Schumanplatz. Wir nehmen daher wieder die 39 Stufen, dieses Mal hinunter, lassen den überirdischen Verkehr auf der Rue La Loi über uns und die U-Bahnen unter uns hinweg rollen und steigen auf der anderen Seite wieder nach oben. Heute ist auch hier die Rolltreppe defekt.

Das Berlaymont-Gebäude würdigen wir aber nun keines Blickes. Wir streben dem Platz zu, der einst Rond-Point de la Loi hieß und heute nach dem europäischen Gründungsvater Robert Schuman benannt ist. Jahrzehntelang kamen hier sechs Straßen zusammen, und die Staus wurden länger und länger. Kaum vorstellbar, dass hier, wo Heerscharen von EU-Bediensteten, Diplomaten, Lobbyisten und Journalisten ständig hin und her wieseln, eine Oase der – relativen – Ruhe entstehen soll.

Beherrscht werden soll sie in der Mitte durch eine Art begrünten Baldachin mit einer großen Öffnung. Sie soll den Blick auf den zumindest dieser Tage strahlend blauen Brüsseler Himmel freigeben – wohlgemerkt: soll!

Denn erstens bedarf es großer Phantasie, sich die versprochene Idylle beim derzeitigen Anblick kreuz und quer stehender Baufahrzeuge und -geräte auszumalen. Und zweitens leidet das Projekt auch unter etwas, was für die nunmehr seit über einem Jahr auf eine handlungsfähige Regierung wartende Hauptstadtregion charakteristisch ist: akutem Geldmangel.

Aber Not macht bekanntlich erfinderisch. So ist dieser Tage in den Zentralen von Kommission, Europäischem Rat und Ministerrat, dem Europäischen Auswärtigen Dienst sowie dem EU-Parlament ein Schreiben eingetrudelt, das sich treffend wohl nur als „Bettelbrief“ bezeichnen lässt. Das Schreiben, von dem die Redaktion der Zeitung „De Standaard“ Kenntnis erhalten hat, beginnt mit einer Feststellung, die kaum einem Passanten im EU-Viertel überraschen dürfte: „Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass auf dem Schumanplatz umfassende Bauarbeiten stattfinden.“

Danach sollen der geschäftsführende Ministerpräsident Rudi Vervoort, ein französischsprachiger Sozialist, Elke Van den Brandt (flämische Grüne), Ministerin für Mobilität in der Region, sowie die flämische Sozialistin Ans Persoons, zuständige Staatsekretärin für Städtebau und die Beziehungen zu den EU-Institutionen, offenbar zur Sache gekommen sein. Die Brüsseler Regierung sei, so heißt es in dem Brief, „momentan nicht in der Lage“, die Gesamtkosten für das Projekt zu stemmen.

Es soll nach Schätzungen der zuständigen Brüsseler Dienststelle (Beliris) jetzt statt, wie ursprünglich geplant, 30,2 Millionen Euro, sondern 12,4 Millionen Euro mehr kosten. Davon sollen neun Millionen Euro auf die Neuanlage des Platzes sowie weitere 3,4 Millionen Euro auf die geplante Baldachin-Konstruktion entfallen. Was hinter den Fassaden der EU-Gebäude über das Schreiben gedacht sowie gemunkelt wird, all das ist unbekannt. Dabei soll das Projekt nach den Angaben auf der Beliris-Internetseite bereits 17,4 Millionen Euro aus dem Programm „Next Generation EU“ erhalten haben.

Ungehalten hat der belgische Premierminister Bart De Wever auf den Vorstoß der Brüsseler Politiker reagiert. Im Fernsehsender VRT sprach er von einem „Tiefpunkt“. Brüssel, das über die größte Ansammlung von Diplomaten in der Welt verfüge, werde der Lächerlichkeit preisgegeben. Mit Blick auf die Verfasser erklärte De Wever: „Sie sollten sich zutiefst schämen“. Der Regierungschef berichtete, er habe gegenüber den EU-Institutionen um Entschuldigung gebeten und darum, den Brief einfach zu ignorieren.

Die Mehrkosten, so können wir dem Brüsseler Informationsdienst Bruzz entnehmen, sollen sich nicht nur durch verteuerte Baumaterialien, sondern zum Beispiel auch durch die verschärften Sicherheitsanforderungen an die Poller erklären, die für angemessenen Schutz – nicht nur der Politikprominenz – im EU-Viertel sorgen sollen. Dann horchen wir auf, als wir erfahren, dass hier auch die unterirdische Wasserdichtigkeit erhöht werden solle.

Hatten wir nicht nach dem Ausstieg aus der U-Bahn eher beiläufig festgestellt, dass der Fahrkarten- und Informationsschalter der belgischen Bahngesellschaft SNCB/NMBS am helllichten Tag geschlossen war? Als wir uns dann doch neugierig dem Schalter näherten, konnten wir blau auf weiß und in zwei Sprachen staunend folgende Mitteilung lesen: „Wegen Wasserschäden sind unsere Schalter zeitweilig nicht besetzt. Wir helfen Ihnen gerne an den Automaten weiter.“

Zumindest diese eine wichtige Erkenntnis haben wir daher an diesem Schuman-Platz wieder nach Hause mitnehmen können: Nicht nur für die Polizisten, sondern für auch für jeden Automaten der Bahngesellschaft gilt die Devise „Dein Freund und Helfer.“

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