
Von Reinhard Boest
Im Brüsseler Polit-Theater wird aktuell auf einer geteilten Bühne gespielt. Eine neue Variante, fast ein Jahr nach den Wahlen zum Regionalparlament, und vor einem zunehmend ratlosen (oder verzweifelten) Publikum.
Auf der rechten Bühnenseite: George-Louis Bouchez, der Vorsitzende der frankophonen Liberalen (MR), die im Juni 2024 mit 26 Prozent der Stimmen als stärkste Partei aus den Wahlen in der Brüsseler Hauptstadtregion hervorgegangen sind; daneben, aber gefühlt eher dahinter, David Leisterh, Brüsseler MR-Vorsitzender und seit vielen Monaten auf der verzweifelten Suche nach einer Mehrheit, um als Wahlsieger auch Ministerpräsident der Region zu werden. Der neueste Versuch: die Präsentation eines – anscheinend weitgehend auf MR-Positionen basierenden – Regierungsprogramms, zu dem sich potentielle Koalitionspartner äußern sollen und das dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden soll. Offen ist nicht nur der Termin dafür, sondern vor allem, unter welchen Umständen sich dafür eine Mehrheit finden soll.
Auf der linken Seite: Ahmed Laaouej, mächtiger Regionalchef der frankophonen Sozialisten (PS) in Brüssel. Er versucht sich jetzt daran, aus der zahlenmäßig vorhandenen “linken” Mehrheit im Parlament eine stabile Regierungsmehrheit zu zimmern. Immerhin haben einige Abstimmungen in den vergangenen Monaten (beispielhaft diejenige zum Mietrecht) gezeigt, dass es eine solche Mehrheit in Sachfragen geben kann. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass es zwischen einzelnen Partnern so starke Animositäten gibt, dass man von Stabilität weit entfernt ist. Die flämischen Sozialisten von Vooruit sind “über Kreuz” mit Fouad Ahidar, der sich mit seiner Liste vor der Wahl von ihnen abgespalten hat. Und bei den Grünen gibt es Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit der links von ihnen und der PS stehenden Partei PTB/PVDA von Raoul Hedebouw (auch wenn es solche Bündnisse etwa in den Gemeinden Forest und Molenbeek und außerhalb Brüssels auch in Mons gibt).
Bouchez und Laaouej stehen sich “mit gezückten Messern” gegenüber: jeder versucht jetzt dem anderen zu zeigen, dass es notfalls auch ohne ihn geht. Eigentlich müssten aber beide wissen, dass der eine ohne den anderen eben keine stabile Mehrheit erreichen kann. Seit einem Jahr sind wir daher Zeugen einer unendlichen Aufführung: kaum eine Variante, die nicht schon ausprobiert worden wäre, damit die Region endlich wieder eine endscheidungsfähige Regierung bekommt. Dabei ist dies, vor allem angesichts der prekären finanziellen Lage, dringend erforderlich. Belgieninfo hat darüber regelmäßig berichtet.
Die Sache wird dadurch nicht einfacher, dass sich das Drama auf zwei Ebenen abspielt: inhaltlich geht es um eine breite Palette sozio-ökonomischer Probleme – vom Wohnungsmarkt über die Sozialpolitik und die Mobilität bis zur Sicherheitslage. Parallel geht es aber auch um den Status Brüssels als eigene Region sowie um den Sprachenstreit. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Partei der flämischen Nationalisten (und des belgischen Premierministers Bart De Wever), die N-VA. Insbesondere die PS (aber nicht nur sie) lehnt eine Zusammenarbeit mit der N-VA in einer Brüsseler Regierungskoalition kategorisch mit der Begründung ab, dass die N-VA noch immer auf eine Schwächung oder gar Abschaffung der Region Brüssel hinarbeite. Auf der anderen Seite besteht der MR auf einer Einbeziehung der N-VA – nicht nur um es sich mit der Föderalregierung nicht zu verscherzen, sondern auch weil beide Parteien inhaltliche Positionen etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik teilen.
Bouchez und Leisterh haben den Entwurf ihres Regierungsprogramms allen Fraktionen des Parlaments mit Ausnahme des rechtsnationalistischen Vlaams Belang, der PTB/PVDA und der Liste Fouad Ahidar zukommen lassen. Die Adressaten sollen sich dazu bis Anfang der nächsten Woche äußern. Das Papier ist nicht öffentlich, aber Medienberichte lassen erkennen, in welche Richtung es gehen soll. Zentrales Ziel ist eine Sanierung der Finanzen, die über einen Zeitraum von sieben Jahren mit Einsparungen und einer “Rationalisierung der Verwaltung” erreicht werden soll. In diesem Rahmen soll es um drei Prioritäten gehen: Beschäftigung und Wirtschaft, öffentliche Dienstleistungen und Sauberkeit sowie Sicherheit. Beim ersten Thema will man sich mit einer “klaren Strategie der Aktivierung von Arbeitslosen” an der der flämischen Beschäftigungspolitik orientieren. Bouchez warnte vor einer “Politik des Widerstands” gegen die jüngsten Entscheidungen der Föderalregierung auf diesem Feld, wie etwa die zeitliche Begrenzung des Arbeitslosengeldes – diese seien getroffen und gültig.
Die MR will auch ein Ende des Brüsseler Mobilitätsprojekts “Good Move” in seiner derzeitigen Form, eine Neubewertung der Tarife des Nahverkehrsunternehmens STIB/MIBV sowie eine Reform des Systems der Müllsammlung in der Stadt (auch der Mülltrennung?). Die Sicherheit soll dadurch erhöht werden, dass der Ministerpräsident seine erweiterten Zuständigkeiten nach der Zusammenlegung der derzeit sechs Polizeizonen konsequent nutzt.
Erste Reaktionen aus den anderen Parteien lassen – wenig überraschend – erwarten, dass Bouchez und Leisterh erhebliche Abstriche an ihrem Programm machen müssen, wenn sie dafür eine Mehrheit erreichen wollen. Das gilt nicht nur, aber vor allem mit Blick auf eine Teilnahme der PS, deren Vorstellungen etwa in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, aber auch in der Wohnungspolitik deutlich andere sind. Auf der anderen Seite dürfte sich die Initiative Laaouejs für eine linke Mehrheit recht bald als ebenso unrealistisch erweisen. Die PTB/PVDA hat schon erkennen lassen, dass eine von Sparzwängen geprägte Politik mit ihr nicht zu machen sei.
Premierminister De Wever hat gerade erneut seine Beunruhigung über die festgefahrene Situation zum Ausdruck gebracht. Seiner Meinung nach lässt sich die Situation “ganz leicht deblockieren, wenn man nach den Regeln spielt”. Damit meint er offenbar das Sondergesetz von 1989, das den Status der Region Brüssel-Hauptstadt definiert: “es braucht danach eine Mehrheit in beiden Sprachgruppen, die man dann einfach addiert.” Die PS habe diese Regel in Frage gestellt, indem sie die Zusammenarbeit mit einem Partner der anderen Sprachgruppe ablehne: der N-VA.
Also alles zurück zum Ausgangspunkt auf der Brüsseler Politbühne? In der nächsten Woche steht die Bewertung der Bonität der Region durch die Ratingagentur Standard and Poor’s an. Ein letzter Weckruf? Das Brüsseler Publikum weiß wahrscheinlich inzwischen nicht mehr, ob eine Posse oder eine Tragödie aufgeführt wird.
English version: BXL Theater
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