Aktuell, Belgien, Wirtschaft

Aufschrei in Aachener Grenzregion über Volte beim Atomausstieg Belgiens

Doel | Foto: Sammy Six CC BY 2.0 via FlickR

Von Thomas A. Friedrich

Belgien hat am vergangenen Freitag den im Jahre 2003 beschlossenen Atomausstieg gekippt. Das belgische Parlament stimmte mit großer Mehrheit für eine weitere Verlängerung der Laufzeit der bestehenden Reaktoren. An sich sollten die Kernkraftwerke in Doel nahe Antwerpen und das 60 Kilometer von Aachen an der Maas gelegene Tihange bis Ende 2025 abgeschaltet werden.

Nun vollzog die neue Regierung von Premierminister Bart De Wever nach zehn Jahren Streit um die Zukunft der Atomkraftnutzung eine Volte. Damit sind nicht nur der Atomausstieg vom Tisch und eine Laufzeitverlängerung bis 2035 der bestehenden Anlagen Doel 4 und Tihange 3 beschlossen. Ob die Reaktoren Tihange 1 und Doel 2, die eigentlich bis zum Jahresende stillgelegt werden sollten, weiter in Betrieb bleiben werden, hängt nicht zuletzt von der Suche der Regierung nach einem geeigneten Partner ab.

Grundsätzlich visiert die Arizona-Regierung aus De Wevers Neu-Flämischer Allianz (N-VA), den französischsprachigen Liberalen (MR), der zentristischen Partei „Les Engagés“, den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) sowie den flämischen Sozialisten (Vooruit) eine Renaissance der Atomkraft an und plant daher den Bau neuer Reaktoren. Derzeit verfügt Belgien über zwei Kernkraftwerke mit sieben Reaktoren – wovon drei, Doel 1 und Doel 3 sowie Tihange 2, aus Alters- und Sicherheitsgründen bereits vom Netz genommen wurden.

Merkel und Verhofstadt-Regierung marschierten seinerzeit beim Ausstieg Seit an Seit

Nur ein Jahr nach dem deutschen Atomenergie-Ausstiegsbeschluss unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (2002) folgte auch der Nachbarstaat Belgien im Lichte der Katastrophe des japanischen Atomkraftwerkes von Fukushima dem deutschen Beispiel. Die belgische Mitte-links-Regierung unter dem liberalen Premierminister Guy Verhofstadt beschloss ein Ende der friedlichen Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung bis 2025.

Ende des Gaslieferungen via Nord Stream wendet das Blatt in Belgiens Energiepolitik

Aus Sorge um die Sicherheit der nationalen Energieversorgung und als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit dem Ende der Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream entschied Belgiens Regierung unter dem flämischen Liberalen Alexander De Croo 2022, den Atomausstieg um zehn Jahre zu verschieben. Jeweils ein Meiler der beiden belgischen Kernkraftwerke sollte bis 2025 weiter am Netz bleiben.

Der Kraftwerksbetreiber, die französische Engie-Tochter in Belgien, hatte eher zähneknirschend der Verlängerung zugestimmt, nachdem der Staat Teile des Risikos übernommen und Subventionen zugesichert hatte.

Eigentlich sollten die zwei verbleibenden, seit 50 Jahren laufenden Reaktoren zum Jahresende abgeschaltet werden. Der Weiterbetrieb um zehn Jahre zieht erhebliche Aufwendungen in Milliardenhöhe für Sicherheit und Erhaltungsmaßnahmen nach sich.

Trotz aller Ambitionen der Vorgänger-Regierung unter De Croo, im Verbund mit den Nordsee-Anrainerstaaten einem umfangreichen Off-Shore Projekt in der Nordsee Priorität einzuräumen, stehen die Zeichen in der belgischen Energiepolitik mit Bart De Wever nun auf einer Renaissance der Kernenergie. Noch im April 2023 hatten sich unter Führung der belgischen EU-Ratspräsidentschaft neun EU-Staats- und Regierungschefs beim „North Sea Summit“ in Ostende für ein grünes Offshore-Powerhouse ausgesprochen.

Ostende Konferenz legte Offshore-Wind Ziele auf 120 GW bis 2030 aus

Die Staats- und Regierungschefs und die Energieminister Deutschlands, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens, Norwegens, Irlands, Großbritanniens, Frankreichs, unterstützt von Luxemburg, einigten sich damals als die neun Nordseeanrainer auf Ausbauziele für die Nutzung der Offshore-Windenergie von rund 120 Gigawatt (GW) bis 2030 und 300 GW bis 2050.

 De Wever ruft Zeitenwende belgischer Energiepolitik aus

Das belgische Parlament änderte mit seinem Beschluss vom 16. Mai das Gesetz zum Atomausstieg. Damit kann die Arizona-Koalition unter dem begeisterten Kernenergie-Anhänger De Wever einen Schlussstrich ziehen und den Ausstieg vom Ausstieg besiegeln.

Ursprünglich sollten in Belgien alle sieben Meiler an den beiden AKW-Standorten Doel bei Antwerpen und Tihange bei Lüttich 2025 vom Netz gehen. Mit der Gesetzesänderung wurde nun formal in Recht gegossen, was längst beschlossene Sache war: Die Meiler Tihange 3 und Doel 4 werden bis 2035 am Netz bleiben. Die Regierung hatte überdies zuvor angekündigt, eine weitere Verlängerung um ein Jahrzehnt prüfen zu wollen, falls notwendig bis 2045. Die jetzt erfolgte Gesetzesänderung ebnet dafür ebenso den Weg.

Die damit eingeläutete Zeitenwende in der belgischen Energiepolitik geht noch einen Schritt weiter. De facto kündigte der Regierungschef eine Renaissance der Kernenergie in Belgien an.

Der gefasste Beschluss zur Laufzeitverlängerung fußt auf einer breiten Zustimmung im Parlament. Insgesamt stimmten 102 Abgeordnete für eine Verlängerung der Laufzeit der bestehenden Reaktoren. Lediglich acht Stimmen dagegen und 31 Enthaltungen wurden gezählt.

Sechs Grünen-Abgeordnete stemmten sich vergeblich gegen den Atom-Wende Beschluss

Wir erlauben es unserem Land, strategische Entscheidungen zu treffen“, sagte der MR-Abgeordnete Christophe Bombled. Man wolle Energiesicherheit herstellen und den CO₂-Ausstoß verringern, lauteten die Argumente der Befürworter. Eine Abkehr von den Dogmen der Vergangenheit sei richtig. Ziel müsse es sein, dass Belgien souverän sei und die Energieversorgung sichergestellt sei.

Überraschend kam das Abstimmungsergebnis nicht. Schon im Vorfeld hatten alle Regierungsparteien als auch die große Fraktion des rechtsradikalen Vlaams Belang für den Gesetzesvorschlag ihre Zustimmung signalisiert. Das Vorhaben war nicht zuletzt von den frankophonen Liberalen bereits im Oktober auf den Weg gebracht worden.

Entsprechend selbstbewusst präsentierten sich die Protagonisten des Gesetzes. Allen voran der Abgeordnete Bombled, der zum Schluss federführend das Gesetz bearbeitet hatte. “Das ist ein historischer Moment”, sagte er nach der Abstimmung. “Er ist das Ergebnis eines langen Kampfes, der aber unermüdlich und mit Überzeugung geführt worden ist von der MR“, so Bombled im belgischen Fernsehen.

 „Von einem historischen Beschluss“ sprach nach dem Votum auch Energieminister Mathieu Bihet (MR). Die neue Regierung hatte angekündigt, von den bestehenden AKW-Kapazitäten vier Gigawatt erhalten zu wollen.

Darüber hinaus will sie den Neubau von Kraftwerkskapazitäten von weiteren vier Gigawatt auf den Weg bringen, darunter auch neue Kernkraftwerke. Bihet bekräftige dieses Ziel nach dem erfolgten Votum im Fernsehen. Zunächst müssten aber noch viele Fragen geklärt werden: Wie viel Kernkraft benötige das Land für seinen Energiemix tatsächlich, und welche Technologien seien die besten. Gleichzeitig gelte es, Verhandlungen mit industriellen Anbietern aufzunehmen. Der gefasste Beschluss habe dafür die Tür geöffnet, er sei aber erst der Anfang eines langen Weges, erklärte der Energieminister.

Anders die Oppositionsparteien, die frankophonen Sozialisten (PS) sowie die links davon angesiedelte Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA): Sie enthielten sich geschlossen bei der Abstimmung. Nur die sechs Grünen-Abgeordneten stimmten dagegen.

In einer Pressemitteilung bezeichnete es Ecolo Ostbelgien als wirtschaftlich unsinnig, den Ausstieg aus der Atomkraft rückgängig zu machen. Mit dem Festhalten an alten Reaktoren und der vagen Hoffnung auf neue, milliardenteure Atomprojekte verkaufe die Föderalregierung der Bevölkerung scheinbare Lösungen für echte Probleme. Gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung blieben in der Diskussion weitgehend außen vor. Die Verlängerung der Laufzeiten alter Reaktoren und die Planung neuer Atomkraftwerke seien nicht nur sicherheitstechnisch bedenklich, sondern auch wirtschaftlich unsinnig. „Dies behindert die dringend notwendige Energiewende“, so Ecolo Ostbelgien.

Im September 2024 hatte der belgische Stromnetzbetreiber Elia einen Plan für das belgische Stromsystem 2035-2050 vorgelegt, in dem er die Perspektiven für eine klimaneutrale Deckung des Strombedarfs bis 2050 analysierte. Danach gelingt dieses weder mit erneuerbaren Energien noch mit Atomenergie allein.

Unverständnis in Aachen und der NRW-Regierung

In der deutschen Grenzregion stößt die Gesetzesänderung zum Ausstieg aus dem Ausstieg auch auf Unverständnis und Ablehnung. Von allen Kernkraftwerken in Europa weist die in der Vergangenheit immer wieder wegen Rissen in der Schutzhülle als „Pannenreaktor“ in Verruf geratene Anlage Doel 3 die am dichtesten besiedelte Umgebung auf. In einem Radius von 75 Kilometer leben rund neun Millionen Menschen.

Auch der nordrhein-westfälische Umweltminister Oliver Krische von den Grünen kritisierte die Pläne der neuen belgischen Regierung, die Atomkraftwerke Tihange und Doel länger am Netz zu lassen. „Das halte ich für unverantwortlich – ganz gleich, wie man generell zu Atomkraft steht“, sagte Krischer im Gespräch mit der Aachener Zeitung. Der Grünen-Politiker hatte jahrelang mit seiner Partei gegen den Betrieb der umstrittenen „Riss“-Meiler Tihange 2 und Doel 3 gekämpft, die inzwischen abgeschaltet wurden.

 

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..