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Extremisten beiderseits der belgischen Sprachgrenze im Aufwind

© RTL

Von Michael Stabenow

Gut acht Monate vor den Parlamentswahlen zeichnet sich in Belgien eine Phase großer Instabilität ab. Wie in vielen anderen europäischen Staaten werden die politischen Ränder stärker, während die Mitte schwächelt. Laut einer am vergangenen Wochenende veröffentlichten „Ipsos“-Meinungsumfrage im Auftrag der Tageszeitungen „Le Soir“ und „Het Laatste Nieuws“ sowie der Fernsehsender RTL und VTM kann derzeit der rechtsextreme „Vlaams Belang“ in Flandern seine führende Position ausbauen. Dagegen sitzt im traditionell „roten“ Wallonien die linkspopulistische „Parti du Travail de Belgique“ (PTB) als zweitstärkste Kraft den traditionell mit großem Abstand führenden Sozialisten (PS) demoskopisch im Nacken.

Für die sieben Parteien der seit Herbst 2020 regierenden „Vivaldi“-Koalition unter dem flämischen Liberalen Alexander De Croo zeigen die Umfrageergebnisse im Vergleich zur Parlamentswahl im Juni 2019 nach unten – mit einer Ausnahme. „Vooruit“, wie sich die flämischen Sozialisten seit 2021 nennen, kann derzeit laut „Ipsos“-Umfrage im nördlichen Landesteil mit 15,2 Prozent der Stimmen rechnen – 4,6 Prozentpunkte mehr als 2019.

Relativ ungeschoren kommen in der Umfrage die französischsprachigen Grünen (Ecolo) und die Liberalen (MR) davon. Dagegen müssen die wallonische PS (mit einem Rückgang um 4,3 Prozentpunkte auf 21,8 Prozent) sowie die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) – 12,2 statt 14,2 Prozent – und besonders die flämischen Liberalen (Open VLD) mit einem Rückgang in den Wahlabsichten auf nur 8,2 Prozent gegenüber 13,5 Prozent im Jahr 2019 Federn lassen. Angesichts des Absturzes der Open VLD überrascht es, dass der dieser Partei angehörende Premierminister Alexander De Croo sowohl in Flandern als auch in der Wallonie und Brüssel immer noch zu den drei beliebtesten Politikern gehört.

Was kommt nach Vivaldi?

Rein rechnerisch ist es nicht ausgeschlossen, dass es nach der kommenden Wahl für eine Neuauflage der Koalition („Vivaldi 2“) reichen könnte. Dagegen sprechen jedoch die Streitereien innerhalb des breiten Bündnisses – vor allem der tiefe ideologische Graben zwischen MR einerseits sowie Ecolo und PS andererseits. Zudem mehren sich in den Reihen der flämischen Grünen (Groen), deren Stimmenanteil laut Umfrage von 9,8 Prozent auf 6,5 Prozent abbröckeln könnte, die Rufe gegen eine Fortsetzung der Koalition.

N-VA schwächelt – Vlaams Belang weiter im Aufwind

Auch für die Anhänger der nationalistischen „Neu-Flämische Allianz“ (N-VA) des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever, die seit neun Jahren in der Regionalregierung Flanderns den Ministerpräsident stellt, gibt es keinen Grund, sich die Hände zu reiben. Wären jetzt Wahlen, käme die Partei auf 20,2 statt 25,5 Prozent im Juni 2019. Auch die satte Mehrheit der flämischen Koalition aus N-VA, CD&V und Open VLD wäre dahin. Die drei Parteien kommen derzeit gemeinsam auf 40,6 Prozent – gegenüber 53,5 Prozent im Jahr 2019.

Kommt in Flandern „eine Art CSU”?

Nutznießer ist der fremdenfeindliche Vlaams Belang. Die Partei kann derzeit mit einem Stimmenzuwachs um 8,1 Prozentpunkte auf 25,8 Prozent rechnen. Für De Wever ist die Popularität der flämisch-nationalistischen Konkurrenz vor allem eine Folge der Unzufriedenheit der Bürger mit der „Vivaldi“-Koalition. Im Rundfunksender VRT brachte De Wever jetzt die Bildung einer breiten, die Mitte- und Mitte-Rechtsströmungen umfassenden flämischen Gruppierung ins Gespräch. Es gehe um „eine Art CSU“, die „gesellschaftspolitisch konservativ“ sowie „wirtschaftlich liberal“ sei und in der Lage sein werde, den erforderlichen institutionellen Umbruch in Belgien zu bewerkstelligen.

De Wever sieht als Grundlage für eine entsprechende breite Bewegung die Kritik an der Haushalts-, Migrations-, Gesellschafts- sowie Klimapolitik der „Vivaldi“-Koalition. So rührt er fleißig die Werbetrommel für die Atomkraft. Offenbar setzt er darauf, dass die gegensätzlichen Positionen zwischen einem „rechten“ Norden und „linken“ Süden die Umwandlung Belgiens in ein konföderales Gebilde förderlich sein könnten. Als Teil der Suche nach neuen (und verlorenen) Wählerschichten hat die N-VA den ehemaligen Judoka Jean-Marie Dedecker, kein Parteimitglied, zum Spitzenkandidaten in der Provinz Westflandern erkoren. Prompt plädierte Dedecker für eine vom Vlaams Belang geduldete Regionalregierung in Flandern – und De Wever widersprach sofort.

Keine Frage: De Wevers Partei befindet sich, ungeachtet aller scharf vorgetragenen Positionen ihres Vorsitzenden, demoskopisch im Tief. Bei den Wahlen im Mai 2014 erzielte die Partei in Flandern mehr als 32 Prozent der Stimmen, jetzt liegt sie knapp oberhalb der Marke von 20 Prozent.

Innenministerin warnt vor Blockade und mahnt zur Zusammenarbeit

Vor diesem Hintergrund sind auch die jüngsten Äußerungen der in der föderalen Regierung für den weiteren staatlichen Umbau Belgiens zuständigen Innenministerin Annelies Verlinden zu sehen. Der Zeitung „De Standaard“ sagte die flämische Christdemokratin: „Keine einzige Partei kann für sich allein Flandern in einer föderalen Regierung vertreten.“ Unter den Hinweis auf die Forderung des Vlaams Belang und einiger N-VA-Vertreter, einseitig und ohne Vereinbarung mit den Französischsprachigen Belgien umzubauen oder gar zu spalten, erläuterte die Politikerin: „Ich glaube nicht an Lösungen außerhalb des Rechts.“

Verlinden erinnerte auch daran, dass der flämische Ministerpräsident, der N-VA-Politiker Jan Jambon, vor wenigen Monaten erklärt habe, dass gerade einmal 20 Prozent der Flamen der Überzeugung seien, Belgien müsse gespalten werden. „Solange das Land nicht gespalten ist, müssen die Strukturen funktionieren. Den Staat subtil zu entkleiden und dann zu sagen: Ihr seht doch, es funktioniert nicht? So geht das nicht“, sagte die Innenministerin in „De Standaard“.

Fragwürdige Auftritte von Vivaldi-Parteivorsitzenden

Zu den Unwägbarkeiten vor der kommenden Wahl gehört, dass Vorsitzende von mehreren der lange das politische Spektrum in Belgien prägenden Parteien ins Gerede gekommen sind. Sammy Mahdi, der 35 Jahre alte Vorsitzende der einst übermächtigen flämischen Christdemokraten, konnte den Abwärtstrend der altehrwürdigen Partei in den Umfragen zwar zuletzt beenden. So legte jetzt die CD&V gegenüber der Umfrage im Juni um 1,5 Prozentpunkte auf 12,2 Prozent zu. Ob sein – siegreicher – Glitzerauftritt als Drag Queen in der VTM-Fernsehshow „Make up your Mind“ – nach dem Geschmack der konservativen Anhänger der Partei ist, lässt sich bezweifeln.

Auch Georges-Louis Bouchez, Parteichef der französischsprachigen Liberalen, hatte offenbar genug Zeit für eine Teilnahme an einer Fernsehshow. Er musste sich jedoch im vergangenen Frühjahr, offenbar auch mangels körperlicher Fitness, aus der Sendung „Special Forces: Wer wagt, gewinnt“ rasch verabschieden.

Welche Folgen hat der Wirbel um den „Vooruit“-Parteivorsitzenden?

Schon ein Jahr zuvor war sich der damals 29 Jahre alte „Vooruit“-Parteichef Conner Rousseau nicht zu schade, im Kaninchen-Outfit in der Fernsehsendung „The Masked Singer“ aufzutreten. Dies tat der Popularität des jungen, in den sozialen Medien sehr präsenten Parteivorsitzenden offenbar keinen Abbruch. Bei der „Ipsos“-Umfrage im Juni kamen die flämischen Sozialisten auf 16,8 Prozent – sechs Prozentpunkte mehr als bei der Wahl 2019. Seither macht Rousseau schwere Zeiten durch. Zunächst fühlte er sich zur Jahresmitte veranlasst, sich öffentlich zu seiner Bisexualität zu bekennen. Wenig später tauchten Vorwürfe wegen angeblicher sexueller Belästigungen in drei Fällen auf, in einem davon gegenüber einer minderjährigen Person. Obwohl die Justiz vor einem Monat mitgeteilt hat, dass in sämtlichen Fällen die Ermittlungen eingestellt worden seien, dürften die Vorwürfe seinem Image keineswegs zuträglich sein.

Zudem sieht sich der „Vooruit“-Vorsitzende jetzt dem Verdacht ausgesetzt, sich bei einem nächtlichen Wortwechsel mit der Polizei in Sint-Niklaas möglicherweise rassistisch geäußert zu haben. Dem Sender VTM und der Zeitung „Het Laatste Nieuws“ ließ Rousseau rechtlich untersagen, zu dem Vorfall geplante Beiträge zu veröffentlichen – was nicht nur die flämische Journalistenvereinigung VVJ als eine durch die Verfassung untersagte „vorbeugende Zensur“ wertete. Rousseau soll sich in Kürze vor der Justiz zu den Vorwürfen äußern. Kein Zweifel: Dem lange überaus populären Rousseau, aber auch seiner Partei – und angesichts der jüngsten Umfrageergebnisse dem ganzen Land – stehen schwierige Zeiten bevor.

 

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