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Bauernproteste verändern die belgische politische Landschaft


Von Michael Stabenow

Elf Wochen vor den belgischen Parlamentswahlen lässt sich eines schon mit Sicherheit sagen: Die Bildung einer neuer föderalen Regierung dürfte kein Pappenstiel werden. Die Ergebnisse der neuesten, alle drei Monate im Auftrag mehrerer Medien vorgenommenen Meinungsumfrage „Grand Baromètre“ oder „Grote Peiling“ bestätigen einerseits den Trend der vergangenen Monate: So führt der rechtsradikale Vlaams Belang in Flandern weiter mit großem Abstand vor der politischen Konkurrenz. Die Partei kommt jetzt auf einen Stimmenanteil von 27,4 Prozent – gegenüber 25,1 Prozent bei der Umfrage Ende vergangenen Jahres sowie 18,7 Prozent bei der Parlamentswahl im Mai 2019.

Überraschend, offenbar zumindest zum Teil mit den jüngsten, in Belgien besonders heftigen Bauernprotesten zusammenhängend, zeigen sich die christlich-demokratischen Parteien beiderseits der Sprachgrenze deutlich erholt (DE GROTE PEILING. Vlaams Belang met voorsprong de grootste, Vooruit neemt een duik | Verkiezingen 2024 | hln.be). Die Umfrageergebnisse zeigen abermals, dass nur eine der sieben in Brüssel seit Herbst 2020 in der „Vivaldi“-Koalition regierenden Parteien gegenüber 2019 zulegen kann.

Lediglich die flämischen Sozialisten („Vooruit“) liegen in der Umfrage im Nordteil des Landes mit 11,4 Prozent noch leicht – um gerade einmal 0,6 Prozentpunkte – über ihrem Ergebnis bei der Wahl im Jahr 2019. Offenbar macht sich jetzt der Rücktritt von Ex-Parteichef Conner Rousseau nach dessen nächtlichen rassistischen Beschimpfungen im ostflämischen Sint-Niklaas (Aufstieg und Fall des Conner Rousseau – Belgieninfo) mit einem deutlichen Sympathieverlust für die Partei spürbar, die vor nicht allzu langer Zeit in Umfragen an der Marke von 17 Prozent kratzte.

Nutznießer in Flandern sind nicht zuletzt die lange schwächelnden und mit dem Bauernverband Boerenbond verbandelten Christlichen Demokraten (CD&V), die mit 13,1 Prozent in der jüngsten Umfrage bis auf 1,1 Prozentpunkte wieder an ihr Ergebnis von 2019 herankommen. Das erstaunliche Erstarken der sowohl auf föderalem als auch regionalem Niveau oppositionellen französischsprachigen Schwesterpartei „Les Engagés“ dürfte zum Teil ebenfalls auf den Unmut in der ländlichen Bevölkerung zurückzuführen sein.

Die Partei legt gegenüber der vorangegangenen Umfrage um drei Prozentpunkte auf 16,8 Prozent zu – 6,1 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl 2019. Für die These, dass die jüngsten Bauernproteste „Les Engagés“ in Wallonien Aufwind beschert haben, spricht das enttäuschende Niveau der Partei in der – bauernfreien – Hauptstadtregion Brüssel. Dort sank ihr Anteil gegenüber der vorangegangenen Umfrage von 7,2 auf 6,8 Prozent. Positiv auswirken dürfte sich für die Partei die Popularität des einst im Streit von den frankophonen Liberalen (MR) geschiedenen früheren wallonischen Finanzministers Jean-Luc Crucke. Mit dem während der Corona-Pandemie durch häufige Fernsehauftritte bekanntgewordenen Epidemiologen Yves Coppieters hat die Partei auch einen prominenten Neuzugang an Land gezogen.

Es ist eine Strategie, an der sich seit längerem auch MR-Chef Georges-Louis Bouchez versucht – mit zuletzt mäßigem Erfolg. Zunächst gelang es ihm, die frühere, nicht als parteinah geltende Fernsehmoderatorin Hadja Lahbib als Außenministerin in die Regierung zu holen. Auf dem MR-Ticket laufen seit einiger Zeit die frühere Miss Belgium Julie Taton sowie Marc Ysaye, ein bekannter langjähriger Moderator des Rocksenders Classic 21. Die Partei verharrt allerdings in Wallonien weiter mit 20,5 Prozent auf dem Stand von 2019.

Schwer tun sich laut Umfrage in Wallonien derzeit besonders die Sozialisten (PS). Sie kommen in der jüngsten Umfrage nur noch auf 21,3 Prozent gegenüber 26,1 Prozent bei der Parlamentswahl im Mai 2019 und 23,9 Prozent bei der Umfrage Ende vergangenen Jahres. Noch härter könnte es die flämischen Liberalen (Open VLD) von Premierminister Alexander De Croo treffen. Mit 8,3 Prozent liegt die Partei zwar um 1,2 Prozentpunkte über dem Ergebnis der vorangegegangen Umfrage, aber sehr deutlich unter den 2019 erzielten 13,5 Prozent.

Eine Neuauflage der „Vivaldi“-Koalition mit den heutigen sieben Partnern erscheint rechnerisch unwahrscheinlich. Es gibt Spekulationen, dass „Les Engagés“ als achter Partner hinzustoßen und so eine Mehrheit sichern könnte. Diese Perspektive versucht Bart De Wever, der Vorsitzende der rechtskonservativen, nationalistischen Neuen Flämischen Allianz (N-VA) zu nutzen, um – aus seiner Sicht – ein Horrorszenario an die Wand zu malen. Doch seine Hoffnung, so an die Konkurrenz des Vlaams Belang abgewanderte Wähler wieder zurückzugewinnen, scheint sich derzeit nicht zu erfüllen. Die Partei sackte in der jüngsten Umfrage von 22 auf 20,4 Prozent ab – weit entfernt von den im Mai 2019 erreichten 25,5 Prozent.

Für Erstaunen sorgte jetzt die Nachricht, dass die flämisch-nationalistische N-VA sich nun auch in Wallonien zur Wahl stellt. Als Spitzenkandidaten präsentierte De Wever jetzt den französischsprachigen Unternehmer und Wissenschaftler Drieu Godefridi, der einst durch seine Sympathie für den amerikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump und durch – inzwischen relativierte Aussagen – zum Klimawandel aufgefallen ist. Godefridi gilt in französischsprachigen Medien seit langem als „persona non grata“.

Allgemein wird hinter dem Schachzug der Partei De Wevers ein Manöver vermutet, dem ungeliebten und ausgesprochen probelgischen MR-Chef Bouchez und dessen Partei im Juni Wähler abspenstig zu machen. Da die N-VA mit hoher Sicherheit in Wallonien an der Fünf-Prozent-Sperrklausel scheitern dürfte, wird allgemein erwartet, dass eine Wanderungsbewegung von Wählern vom MR zur N-VA in Wallonien letztlich die Stellung der Sozialisten etwas stärken könnte. Dies wiederum könnte dem erkennbaren Bestreben De Wevers in die Karten spielen, auf föderalem Niveau ein Bündnis mit den Sozialisten anzusteuern und auf diesem Weg – zumindest in einem ersten Schritt – die Zuständig2keiten des belgischen Föderalstaats zugunsten der Regionen weiter auszuhöhlen.

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