Von Reinhard Boest
Auch zehn Monate nach den Wahlen wartet die Region Brüssel-Hauptstadt noch immer auf eine neue Regierung. Nach langwährenden Sondierungen und Vermittlungen – alle ohne Erfolg – herrscht derzeit völliger Stillstand. Dabei nehmen die vor allem finanziellen Probleme praktisch täglich zu, und der weiterhin amtierende regionale Finanzminister Sven Gatz von den flämischen Liberalen (Open Vld) befürchtet, dass im Laufe des Jahres das Defizit “außer Kontrolle” geraten könnte.
Derzeit arbeitet die Region mit einer vorläufigen Haushaltsführung, das heißt pro Monat steht ein Zwölftel des Budgets aus dem vergangenen Jahr zur Verfügung. 2024 betrug aber das Haushaltsdefizit 1,4 Milliarden Euro, für 2025 erwartet Gatz bis zu 1,6 Milliarden (bei einem Volumen des Regionalhaushalts von 7,6 Milliarden) – und sieht in einer “Stabilisierung” schon einen kleinen Erfolg. Er hat die anderen Mitglieder der noch amtierenden Regionalregierung aufgefordert, bis Ende April konkrete Sparvorschläge zu machen.
Jeder weiß jedoch, dass es sich dabei allenfalls um Kleinigkeiten handeln kann; durchgreifende Maßnahmen, die auch schmerzhafte Einschnitte bedeuten, kann nur eine neue Mehrheit (und die von ihr gebildete Regierung) beschließen. Und wie lange man darauf noch warten muss, hängt vor allem davon ab, wann die – eigentlich seit langem bekannten – potentiellen Partner ihre Haltung überwinden, mit diesem oder jenem auf keinen Fall oder unbedingt zusammenarbeiten zu wollen. (Siehe https://belgieninfo.net/georges-louis-bouchez-wagt-sich-aufs-glatteis-minderheitsregierung-in-bruessel)
Ohne eine “disziplinierende” Koalitionsregierung bilden sich im Regionalparlament weiter wechselnde Mehrheiten zu verschiedenen Sachfragen. Nach den Niedrigemissionszonen im vergangenen September und den Terrassenheizungen im Januar gelang es den frankophonen Sozialisten (PS) jetzt im zweiten Anlauf, die Mehrheit für eine Regelung zu bekommen, mit der missbräuchliche Wohnungsmieten stärker bekämpft werden sollen.
Das Abstimmungsergebnis fiel mit 45 gegen 16 Stimmen deutlich aus; alle linken Parteien stimmten dafür (Sozialisten, Grüne, PTB/PVDA, Team Fouad Ahidar), Liberale (MR, Open Vld), “Les Engagés” und N-VA waren dagegen. Im zuständigen Ausschuss eine Woche zuvor war die Mehrheit mit acht gegen sieben Stimmen deutlich knapper gewesen; dort waren die gegensätzlichen Meinungen noch einmal heftig aufeinander geprallt.
Im Januar hatte der MR mit der Anrufung des Staatsrats und dem Antrag auf eine weitere Expertenanhörung eine Abstimmung noch verhindert. Vielleicht hatte man auf Zeit gespielt in der Annahme, dass es bald zu einer Koalition mit MR und PS kommen würde – dort wäre das Projekt wahrscheinlich am Dissens der beiden gescheitert. (Siehe https://belgieninfo.net/mehrheit-im-bruesseler-parlament-will-staerker-gegen-missbraeuchliche-mieten-vorgehen/)
Nun sollen also zum 1. Mai 2025 die schon seit 2021 im Brüsseler Wohnungsgesetz enthaltenen – aber unter dem Vorbehalt der Inkraftsetzung stehenden – Bestimmungen zur Unterbindung missbräuchlicher Mieten verbindlich werden. Konkret bedeutet das, dass der seit 2021 bestehende und öffentlich zugängliche Mietspiegel (mit Referenzmieten für alle Brüsseler Stadtteile) und die seit Herbst vergangenen Jahres amtierende “Paritätische Kommission für Wohnungsmieten” eine stärkere Rolle spielen sollen, wenn es zwischen Vermieter und Mieter zu Streit über die Höhe der Miete kommt. In Brüssel leben 62 Prozent der Einwohner zur Miete (deutlich mehr als in den anderen Regionen des Landes). Wohnraum, insbesondere bezahlbarer, ist knapp, und die Mieten steigen seit Jahren unaufhaltsam. Schon 2015 wurde geschätzt, dass für etwa 30.000 Wohnungen und damit 10 Prozent des Bestandes die Mieten im Sinne des Gesetzes missbräuchlich sind.
Das Gesetz sieht schon seit 2021 vor, dass in neuen Mietverträgen die Referenzmiete genannt werden muss und dass eine Miete als missbräuchlich gilt, wenn sie mehr als 20 Prozent darüber liegt. Der Vermieter kann aber eine Abweichung begründen, etwa durch überdurchschnittliche Standards. Die Überschreitung hatte aber bisher keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen. Künftig haben Mieter dagegen einen Anspruch auf Revision einer überhöhten Miete. Sie können dazu – wie auch die Vermieter – die Paritätische Kommission anrufen und um eine Einschätzung bitten. Sieht diese die Miete als zu hoch an, kann sie eine Mediation anregen. Führt diese nicht zu einer Einigung, kann die Beurteilung durch die Kommission bei einer dann möglicherweise folgenden gerichtlichen Entscheidung maßgeblich sein.
Die Kommission war bisher nur mit vier Fällen befasst. Nur in einem lag nach ihrer Auffassung ein Missbrauch vor; die geforderte Miete betrug 1.250 Euro – die Referenzmiete lag bei 850 Euro.
Die Kritiker der Regelung sind weiter der Auffassung, dass die Datenbasis des Mietenspiegels zu „dünn“ sei. Der Verband der Wohnungseigentümer hält ihn für realitätsfern, denn in mehr als die Hälfte der Fälle lägen die tatsächlich gezahlten Mieten über der jeweiligen Referenzmiete, ebenso wie fast alle Angebote etwa bei Immoweb. Eigentümer und Investoren würden verunsichert, und das könne sich negativ auf das Angebot an Wohnraum auswirken.
Die Entwickler des Mietspiegels, darunter Forscher von der Freien Universität Brüssel, halten ihn dagegen für ausreichend repräsentativ. Er beruhe auf drei Erhebungen aus den Jahren 2017, 2018 und 2020 und berücksichtige die seither erfolgten Indexierungen. Außerdem werde die Datenbasis mit Hilfe der obligatorischen Registrierung neuer Mietverträge ständig erweitert.
Der PS-Regionalabgeordnete Martin Casier, auf dessen Initiative der Parlamentsbeschluss zurückgeht, will damit vor allem gegen Missbrauch im unteren Teil des Mietenspektrums vorgehen. Dort seien die Auswirkungen überhöhter Mieten besonders gravierend. Dagegen sei im oberen Spektrum kaum mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen. Und er weist ausdrücklich darauf hin, dass man sich in Brüssel nicht am Berliner Beispiel orientiere: der Mietspiegel sei eben keine Mietpreisbremse, denn die Regelung lasse genügend Spielräume.
Falls es irgendwann doch zu einer Koalitionsregierung unter Beteiligung von PS und MR kommen sollte, ist immerhin ein Streitpunkt wohl schon vom Tisch.
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