
Von Reinhard Boest
Auch zehn Monate nach der Wahl ist die Region Brüssel-Hauptstadt weiter ohne Regierung. In den vergangenen Wochen und Monaten haben mehrere „Pre-Formateure“, „Formateure“ und Vermittler versucht, (fast) alle denkbaren Konstellationen für eine neue Regierungskoalition zu sondieren – wie man inzwischen weiß, ohne Erfolg.
Dabei ging es – wie man immer wieder betonen muss – noch gar nicht um Inhalte, wie also die Politik für Brüssel aussehen soll, sondern ausschließlich darum, wer mit wem kann, oder eben nicht, im eigenen oder im anderen (Sprach-)Lager. Der zentrale Streitpunkt ist dabei: wie hältst Du es mit der (flämisch-nationalistischen) N-VA, der Partei des föderalen Premierministers Bart De Wever? Ohne deren Abgeordnete im Brüsseler Regionalparlament ist die Bildung einer Mehrheit schwierig. Bei den Frankophonen lehnen nicht nur die Sozialisten (PS), sondern auch die Grünen (Ecolo) und die Partei Défi (die ehemalige „Front des Francophones“) eine Beteiligung der N-VA ab; die Liberalen (MR) und die Zentrumspartei „Les Engagés“ haben aber allein keine Mehrheit.
Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez, der dem Brüsseler MR-Chef David Leisterh die Verhandlungsführung de facto aus der Hand genommen hat, dringt dagegen auf eine Regierung mit Beteiligung der N-VA. Dafür dürften nicht nur inhaltliche Übereinstimmungen etwa in der Wirtschafts-, Sozial- oder Verkehrspolitik eine Rolle spielen, sondern auch der Wunsch, eine möglichst große Kongruenz in der politischen Zusammensetzung mit der Föderalregierung zu erreichen. Falls Brüssel die Hilfe der föderalen Ebene braucht – was angesichts der prekären Finanzlage eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat -, kann das sicher nicht schaden.
Bouchez hat daher Anfang der Woche die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ins Gespräch gebracht. Das wäre in Belgien ein Novum, aber die Blockade durch Neuwahlen aufzulösen, ist nach der belgischen Verfassung nur für das föderale Parlament (Kammer) möglich. Eine Minderheitsregierung müsste sich für jede Maßnahme von neuem eine Mehrheit im Parlament suchen. Wie unsicher das ist, konnte man in den vergangenen Monaten wiederholt beobachten, als verschiedene Beschlüsse mit jeweils anderen Mehrheiten beschlossen wurden (etwa die Verschiebung der LEZ, siehe https://belgieninfo.net/warum-in-bruessel-die-regierungsbildung-so-schwierig-ist-kommt-der-sprachenstreit-zurueck/ oder https://belgieninfo.net/kompromisssuche-in-vermintem-gelaende/).
Einen Haushalt für das laufende Jahr gibt es noch immer nicht, obwohl eigentlich Konsens besteht, dass es mit der vorläufigen Haushaltsführung (pro Monat ein Zwölftel des Haushalts des vergangenen Jahres) nicht weitergehen kann. Ein Haushaltsplan wäre die „Nagelprobe“, ob es mit einer tragfähigen Mehrheit klappt. Der noch amtierende Brüsseler Finanzminister Sven Gatz von den flämischen Liberalen (Open Vld) hatte vor zwei Wochen den Auftrag bekommen, einen Entwurf zu erarbeiten. Der Auftrag kam von den Parteien, denen bis vor kurzem noch die größten Chancen eingeräumt wurden, eine Koalition zu bilden: MR, Les Engagés und PS auf frankophoner Seite; Groen, OpenVld, Vooruit und CD&V für die niederländischsprachigen Parteien. Aber das war, bevor klar wurde, dass es mit dieser Mehrheit wohl doch nichts wird. Seither hat man von dem Entwurf nichts mehr gehört. Dennoch: in einem Haushalt müssen sich alle Parteien wiederfinden können, die ihn beschließen sollen. Auch wenn die Regierung nur von einer Minderheit unterstützt wird.
Aber zunächst müsste eine Regierung überhaupt gebildet werden. Und wie geht das, wenn es keine Mehrheit im Parlament gibt? Bekanntlich ist dies in Brüssel noch einmal deutlich schwieriger als in den anderen fünf Parlamenten Belgiens. Die – absichtlich – komplizierte institutionelle Struktur dient dem Schutz der flämischen Minderheit. Damit eine Regierung ins Amt kommen kann, brauchen die Mitglieder eine Mehrheit in „ihrer“ Sprachgruppe und eine Mehrheit des Parlaments insgesamt.
Auf der flämischen Seite gäbe es diese Mehrheit: Selbst ohne N-VA kämen die Partner einer Regierung auf 9 von 17 Sitzen; da Bouchez auf die Unterstützung der N-VA zählt, wären es sogar 11. Dagegen verfügen auf frankophoner Seite MR und Les Engagés nur über 29 von 72 Sitzen. Und beide zusammen hätten nur 40 Stimmen – 45 sind nötig für eine Mehrheit. Noch vor einigen Monaten war erwogen worden, eine Regierung zu bilden, die bei den Frankophonen (mit MR, PS und Les Engagés) und im Parlament insgesamt eine Mehrheit gehabt hätte, aber nicht bei den Niederländischsprachigen. Dies stieß auf Kritik und auch auf rechtliche Bedenken. Es ist also zumindest überraschend, dass jetzt eine „doppelte“ Minderheitsregierung rechtlich möglich sein soll. Jedenfalls zitiert die Zeitung „Le Soir“ mit Hughes Dumont von der UCL und Christian Behrendt von der Universität Lüttich zwei renommierte Verfassungsrechtler in diesem Sinne.
Es bleibt also die politische Frage, wer dieser Minderheitsregierung ins Amt helfen soll und warum. Denn die genannten rechtlichen Anforderungen an die Wahl der Regierungsmitglieder bleiben ja bestehen. Manche hatten anscheinend Signale aus Richtung PS wahrgenommen, dass man mit einer Minderheitsregierung leben könne. Es bliebe ja dabei, dass man bei einzelnen Projekten (und beim Haushalt) gebraucht würde. Von einer gewissen Entspannung zwischen MR und PS zeugt auch die Lösung des Konflikts über das Amt des Bürgermeisters in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek, das beide jetzt je zur Hälfte der Amtszeit besetzen werden. Die Sozialisten hätten mit der Aufhebung der Blockade auch dem Eindruck entgegenwirken können, der Schwarze Peter dafür liege bei ihnen. Und sie könnten ihre landesweite Oppositionsrolle konsequent wahrnehmen, wie auf der föderalen Ebene, in der Wallonie und der Föderation Brüssel/Wallonie. Den Eintritt der N-VA in die Regierung könnte der PS trotzdem verhindern, indem einer Kandidatin oder einer Kandidatin die Zustimmung zur Ernennung verweigert wird.
Ob dieser Vorstoß jetzt der Ausweg ist und demnächst endlich über Inhalte gesprochen werden kann – beginnend mit dem Haushalt -, scheint nach den ersten Reaktionen von PS, Ecolo und Défi wohl eher unwahrscheinlich. Alle drei haben auf Bouchez ablehnend reagiert. Die Défi-Vorsitzende Sophie Rohonyi hat sich stattdessen erneut für eine Mehrheit ohne PS und N-VA ausgesprochen – stattdessen mit Défi und Ecolo auf Seiten der Frankophonen. Ecolo hat dagegen aus Resprkt vor dem schlechten Wahlergebnis erneut eine Beteiligung abgelehnt. Wir stehen also wieder am Anfang.
Da ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade jetzt ein Papier durchgestochen wird, in dem MR, PS und Les Engagés schon im Juli 2024, also recht kurz nach der Wahl, auf neun Seiten ihre Prioritäten für eine neue Koalitionsregierung festgehalten haben sollen. Da war natürlich für jeden Partner „etwas dabei“. Vielleicht soll das ein Hinweis an die Sozialisten sein, ob nicht doch eine Beteiligung an der Regierung vorteilhafter sein könnte als Opposition?
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