Aktuell, Belgien, Politik

Zwischen hehren Tugenden sowie Gift und Galle

Am belgischen Nationalfeiertag wirft die Parlamentswahl im Juni 2024 immer deutlichere Schatten voraus

Von Michael Stabenow

Der Vorabend des belgischen Nationalfeiertages hat abermals ein Schlaglicht auf die – gelinde gesagt – Komplexität des Landes geworfen. In feierlichen Worten würdigte das Staatsoberhaupt König Philippe, der vor einem Jahrzehnt die Nachfolge seines Vaters König Albert II. angetreten hat, hehre Tugenden seiner Landsleute, die ihn beeindruckt hätten: „die Großzügigkeit, die Fürsorge für Menschen in Schwierigkeiten, die Offenheit für andere Standpunkte und die Kompromissbereitschaft.“

Wer am selben Tag die Fragestunde im belgischen Parlament verfolgt hat, musste eigentlich den Eindruck gewinnen, der König müsse auf einem anderen Planeten leben. Von „Offenheit für andere Standpunkte“ war dort jedenfalls kaum etwas zu spüren. Stattdessen sorgte das jüngste Scheitern der sieben Parteien umfassenden “Vivaldi“-Koalition am Projekt der Steuerreform für ein vergiftetes Klima – bis weit in die Reihen der Regierungsfraktionen hinein.

In der Rolle des Sündenbocks fand sich ein Politiker wieder, der weder auf den Regierungs- noch auf den Oppositionsbänken im Parlament sitzt: Georges-Louis Bouchez, der keineswegs unter mangelndem Selbstbewusstsein leidende Vorsitzende der französischsprachigen Liberalen (MR). Ihm verübeln es die meisten Koalitionspartner, dass es nicht einmal zu der abgespeckten Steuerreform kommen wird, die von den einst ehrgeizigen Plänen des Finanzministers Vincent Van Peteghem von den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) übriggeblieben ist. Bouchez wird unterstellt, es sei ihm weniger um die Sache – einen Kompromiss – gegangen, sondern vielmehr darum, sich im bereits laufenden Werben um die Gunst der Stimmbürger bei der Parlamentswahl im Juni 2024 mit dem politischen Holzhammer zu profilieren.

Dass die Fraktionsvorsitzende des rechtsradikalen und nach Unabhängigkeit Flanderns strebenden Vlaams Belang, Barbara Pas, das Scheitern der Steuerpläne als weiteren Beleg dafür wertete, dass das Land reformunfähig sei, konnte nicht überraschen. Auch nicht, dass Peter De Roover, der scharfzüngige Fraktionschef der flämisch-nationalistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA), befand, Premierminister Alexander De Croo von den flämischen Liberalen (Open VLD) sei eine „lahme Ente“, da ihm im Steuerstreit die parlamentarische Mehrheit abhanden gekommen sei.

Aber die Art, wie aus den Reihen der Regierungsparteien Gift und Galle in Richtung von Bouchez gespien wurde, kam etwas unerwarteter. Joris Vandenbroucke von den flämischen Sozialisten (Vooruit) wetterte, dass sich „eine Partei, die vorgibt liberal zu sein“, gegen steuerliche Entlastungen für weite Teile der Bevölkerung stelle. Und der flämischen Grünen-Abgeordnete Dieter Vanbesien sah gar das gesamte Parlament in einer Art Würgegriff von Bouchez – „eines Mannes, der selbst in kein einziges Parlament gewählt worden ist.“

Wie es im Vivaldi-Lager südlich der Sprachgrenze um das Vertrauen bestellt ist, hatte Paul Magnette, Parteichef der französischsprachigen Sozialisten (PS), bereits Ende Juni im flämischen Fernsehsender VRT glasklar formuliert: „Das Problem ist Bouchez, der systematisch alle Maßnahmen in Frage gestellt hat“. Thomas Dermine, Staatssekretär für Wirtschaftsentwicklung und enger Vertrauter Magnettes, warf im Sender Bel RTL den Liberalen sogar vor, die Steuerreform torpediert zu haben, weil sie eine geplante geringfügige steuerliche Belastung für Bürger mit Wertpapiervermögen von 50 Millionen Euro hätten verhindern wollen.

Und Premierminister De Croo? Der liberale Regierungschef machte, wie oft in „Vivaldi“-Zeiten, gute Miene zum ziemlich bösen Spiel. Nein, einem einzigen Koalitionspartner – der französischsprachigen Schwesterpartei MR – lasse sich die Verantwortung für das Scheitern der Steuerreform nicht in die Schuhe schieben. Sie sei ohnehin nicht Bestandteil des Koalitionsvertrags von Herbst 2020 gewesen, hatte De Croo schon vor der Fragestunde argumentiert. Am Donnerstag legte er im Parlament nach: Als Regierungschef sei es ihm darum gegangen, zusätzliche Belastungen für den Staatshaushalt zu vermeiden. Mit Blick auf die nach der Sommerpause anstehenden Beratungen über den Staatshaushalt 2024 verwies er darauf, dass sich die öffentlichen Finanzen zuletzt besser als erwartet entwickelt hätten.

Dann rasselte der Regierungschef eine Liste herunter, die belegen sollte, dass sich Belgien im internationalen Vergleich keineswegs so schlecht schlage wie von vielen behauptet – und die „Vivaldi“-Bilanz sich durchaus sehen lassen könne. So rangiere Belgien in puncto Kaufkraft unter den „Top 5“ in Europa, und das Wirtschaftswachstum sei zuletzt höher als bei den großen Nachbarn Deutschland und Frankreich ausgefallen; 234.000 Arbeitsplätze seien neu geschaffen worden, und die Beschäftigungsquote sei von 69 auf – im EU-Vergleich keinesfalls berauschende – 72 Prozent gestiegen.

Auf der Habenseite von Vivaldi sieht De Croo auch die jüngste Rentenreform, die unter anderem allen, die drei Jahre nach Erreichen des Renteneintrittsalters arbeiten, eine staatliche Zulage von über 22.000 Euro in Aussicht stellt. Auch die Asyl- und Migrationspolitik und der Beschluss zur Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftreaktoren Doel 4 (bei Antwerpen) und Tihange 3 (an der Maas zwischen Namur und Lüttich) um zehn Jahre bewertet der Regierungschef als Erfolge.

Dass De Croo laut Umfragen südlich der Sprachgrenze beliebter ist als im heimischen Flandern, zeigt das Dilemma belgischer Regierungschefs auf. Sie müssen sich, was De Croo im Kreis der sieben Vivaldi-Parteien nicht ohne Geschick tut, um Interessenausgleich bemühen. Von den Pluspunkten, die er im französischsprachigen Landesteil sammelt, kann sich De Croo nichts kaufen, da seine Partei nur in Flandern zur Wahl steht. Im nördlichen Landesteil sieht sich der um Vermittlung bemühte Regierungschef dem Verdacht ausgesetzt, nicht hartnäckig genug die Interessen Flandern zu verteidigen.

Dass dies für De Croo ein wunder Punkt ist, zeigte die unverblümte Ausdrucksweise, mit der er sich – ohne sie ausdrücklich beim Namen zu nennen – die flämisch-nationalistischen Oppositionsparteien Vlaams Belang und N-VA vorknöpfte. Er warf ihnen vor, Belgien ständig herunter zu reden. „Sie tun eigentlich nichts anderes, als das Land zu unterminieren und zu versuchen, den Glauben an die Stärke unseres Landes zu zersetzen“, rief der Premierminister – offenkundig bereits im Wahlkampfmodus.

 

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.