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Regierung in Brüssel? Noch lange nicht…

Von Reinhard Boest

Seit dem großen Wahltag am 9. Juni sind in Belgien drei neue Regierungen gebildet worden – drei weitere fehlen aber noch. Wie man es gewohnt ist, ging es in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien am schnellsten. Auch in der Wallonischen Region und der Föderation Wallonie-Brüssel sorgten überraschend klare Wahlergebnisse für ein Mitte-Rechts-Bündnis aus der zentristischen Partei „Les Engagés“ und den frankophonen Liberalen des MR zügig für klare Verhältnisse (siehe https://belgieninfo.net/die-wallonie-bekommt-eine-neue-regierungskoalition-ohne-tabus/)

Drei weitere Regierungen fehlen aber knapp drei Monate nach den Wahlen noch immer, und wie es aussieht, müssen wir darauf auch noch eine Weile warten. Über die Verhandlungen für eine neue Föderalregierung hat Belgieninfo ausführlich berichtet (zuletzt https://belgieninfo.net/zehn-tage-um-die-politischen-gemueter-in-belgien-zu-beruhigen/). Der Vorsitzende der flämischen Nationalisten (N-VA) Bart De Wever hat vor einigen Tagen das Handtuch geworfen, und jetzt soll der „Les Engagés“-Chef Maxime Prévot versuchen, die „Arizona-Koalition“ doch noch zu retten. Auch wenn sie nicht so „bunt“ wäre wie die zu Ende gehende „Vivaldi“-Regierung, müssten doch eher rechts stehende Parteien wie N-VA, MR und die flämischen Christdemokraten (CD&V) mit einem Partner aus dem linken Lager (den flämischen Sozialisten von Vooruit) zurechtkommen.

Trotz der erkennbaren „Knackpunkte“ zwischen den potentiellen Partnern – zuletzt vor allem Einschnitte beim Arbeitslosengeld und die Einführung einer neuen Form einer Kapitalertragssteuer – gibt es dennoch schon arithmetisch kaum eine Alternative, wenn man ohne die Extreme von Links und Rechts eine stabile Mehrheit zustandebringen will. Je näher allerdings das Datum für die Kommunalwahlen am 13. Oktober rückt, umso schwerer wird es den Partnern fallen, Kompromisse einzugehen, die auch ihrer Klientel Opfer abverlangen würden. Beobachter gehen inzwischen davon aus, dass es vielleicht zu Weihnachten eine neue Föderalregierung geben wird.

Auch Flandern wartet noch auf eine neue Regionalregierung. De Wever ging anscheinend davon aus, dass diese sich als „Nebenprodukt“ der angestrebten Föderalregierung ergeben würde – mit denselben Partnern: N-VA, Vooruit und CD&V. Nur diese Konstellation würde über eine Mehrheit verfügen, wenn man die Extreme von Rechts (Vlaams Belang) und Links (Partij van de Arbeid, PVDA) vermeiden will. Die flämischen Liberalen Open Vld des noch amtierenden föderalen Premierministers Alexander De Croo wollen sich nach den verheerenden Stimmenverlusten in die Opposition begeben.

Besonders unübersichtlich ist die Situation in der Region Brüssel-Hauptstadt. Da die Verschränkung zwischen regionalen und kommunalen Befugnissen hier besonders augenfällig ist, war schnell absehbar, dass es eine neue Regierung nicht vor den Kommunalwahlen geben würde. Das war aber nicht der einzige Grund. Bei der Wahl des neuen Regionalparlaments hat die bisherige Koalition aus Sozialisten, Grünen und Liberalen (Défi und Open-VLD) ihre Mehrheit verloren, und eine neue Mehrheit zu finden, gestaltet sich schwierig. Das hat auch mit den besonderen Strukturen der Region zu tun: anders als auf der föderalen Ebene muss eine Regionalregierung in Brüssel über eine Mehrheit in beiden „Kollegien“ des Parlaments verfügen: dieses setzt sich aus 72 frankophonen und 17 niederländischsprachigen Mitgliedern zusammen.

Am 9. Juni erlitten vor allem zwei der drei frankophonen Koalitionspartner heftige Verluste: die Grünen (Ecolo) und Défi büßten rund die Hälfte ihrer Mandate ein (Ecolo von 15 auf 7, Défi von 10 auf 6 Sitze). Beide werden daher in die Opposition gehen. Während die französischsprachigen Sozialisten des bisherigen Regierungschefs Rudi Vervoort – im Gegensatz zum Ergebnis in der Wallonischen Region – ihr Ergebnis halten konnten (16 Sitze), legten die Liberalen (MR) kräftig zu und sind mit 20 Mandaten (bisher 13) jetzt deutlich stärkste Kraft in der Hauptstadtregion. Von einer Mehrheit zusammen mit „Les Engagés“ (8 statt 6 Sitze) wie in der Wallonie ist man allerdings weit entfernt.

Der Brüsseler MR-Vorsitzende David Leisterh ist daher außer auf „Les Engagés“ auf die Sozialisten als Partner angewiesen, da nach dem Verzicht von Ecolo und Défi sonst nur die PTB von Raoul Hedebouw (15 Sitze) bliebe. Der PS-Partei- und Fraktionsvorsitzende Ahmed Laaouej ließ sich allerdings bis Anfang August Zeit, bevor er sich grundsätzlich zu Gesprächen bereit erklärte. Substantielle Verhandlungen in der Sache hat es allerdings noch nicht gegeben.

Ist damit eine Mehrheit auf der frankophonen Seite absehbar, kann davon auf der niederländischsprachigen Seite nicht die Rede sein. Die 17 Sitze teilen sich auf 8 Parteien auf (die 72 frankophonen auf nur sechs). Einigermaßen überraschend konnten die Grünen (Groen) anders als ihre frankophone Schwesterpartei ihre Sitzzahl halten und wurden mit vier Mandaten stärkste Fraktion der niederländischsprachigen Abgeordneten. Ihre Vorsitzende Elke Van Den Brandt, noch amtierende regionale Verkehrsministerin, ist damit Verhandlungsführerin der Niederländischsprachigen für die anstehenden Koalitionsverhandlungen.

Vorher muss sie allerdings eine Mehrheit auf ihrer Seite zustandebringen. Zusammen mit den beiden bisherigen Koalitionspartnern, den Liberalen von Open VLD und den Sozialisten von Vooruit, kommt sie nur auf 8 Sitze (von 17), da beide jeweils ein Mandat verloren haben (nur noch je zwei statt drei). Einen zusätzlichen (vierten) Partner zu gewinnen, ist schwierig, da in der Regionalregierung für die Niederländischsprachigen nur drei Posten zu vergeben sind (zwei Minister und ein Staatssekretär). Daher konnte der (einzige) CD&V-Abgeordnete Benjamin Dalle bisher nicht überzeugt werden. Eine Mehrheit mit drei Partnern wäre rechnerisch nur möglich, wenn die „Liste Fouad Ahidar“ dabei wäre, die bei der Wahl aus dem Stand auf drei Mandate gekommen ist.

Fouad Ahidar ist schon seit 2004 Mitglied des Brüsseler Parlaments, bis 2022 als Abgeordneter von Vooruit. Die Partei schloss ihn aus, weil er entgegen der Parteilinie gegen ein Verbot der Betäubung vor dem rituellen Schlachten gestimmt hatte. Bei der Wahl 2024 trat er mit einer eigenen Liste und einem Programm an, das den Schwerpunkt auf Wohnungspolitik und Kaufkraft setzt, aber mit den Themen rituelle Schlachtung und Tragen des Kopftuchs in der Verwaltung auch deutlich auf eine islamisch geprägte Wählerschaft zielte. Außer den drei Sitzen im Brüsseler Regionalparlament konnte er damit ein Mandat im flämischen Parlament erringen und verpasste den Einzug in die Kammer nur knapp. Eine Beteiligung der Liste Ahidar an einer Mehrheit in der Region haben mehrere Partner kategorisch ausgeschlossen, insbesondere MR-Parteichef Georges-Louis Bouchezund Guy Vanhengel für Open VLDl Auch für seine frühere Partei Vooruit kommt das nicht in Frage. Wie unter diesen Umständen eine Mehrheit zustandekommen soll, steht derzeit in den Sternen.

Aber jetzt wartet man ohnehin erst einmal den 13. Oktober ab. Dabei hat man eigentlich gar keine Zeit. Denn wie auf der föderalen Ebene und in den anderen Regionen ist auch in Brüssel die Haushaltssituation prekär. Der Haushalt 2024 weist bei einem Volumen von 7 Milliarden Euro ein Defizit von 1,4 Milliarden Euro aus, für 2025 werden 2,4 Milliarden Euro prognostiziert. Die Europäische Kommission erwartet schon im September eine Antwort aus Belgien auf das eingeleitete Defizitverfahren. Anscheinend ist man sich dessen auch in Brüssel bewusst. Denn trotz der fehlenden Mehrheit auf der niederländischsprachigen Seite haben in dieser Woche Vertreter von MR, PS, Les Engagés, Groen, Open VLD und Vooruit über das Thema gesprochen. Trotzdem: die Verhandlungen über die künftige Regierung in Brüssel dürften die schwierigsten von allen werden.

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