Aktuell, Verkehr

Mit seinem größten Verkehrsprojekt hat Brüssel kein Glück

C STIB/MIVB

Von Reinhard Boest

In der Woche vor Pfingsten gab es – schon wieder – große Aufregung um das größte Verkehrsprojekt, das derzeit in Brüssel geplant und gebaut wird: die neue Metrolinie 3. Sie soll einmal von der Station Albert in der Gemeinde Forest bis Bordet im Norden von Evere führen. An dem Teilstück zwischen Albert und dem Nordbahnhof – bei dem es vor allem um den Umbau der bestehenden “Prémétro” zu einer “richtigen” Métro geht – wird schon seit über drei Jahren gebaut. Seit einem Jahr stocken die Arbeiten, weil es bei der Untertunnelung des Palais du Midi Probleme gibt (siehe “Wird die Metro unter dem Palais du Midi begraben” – Belgieninfo).

Aufregung über eine Note von Beliris

Diesmal steht aber der nördliche Abschnitt im Mittelpunkt, also der Neubau über knapp 5 Kilometer zwischen dem Nordbahnhof und Bordet. Hier haben die Arbeiten noch nicht begonnen, man ist in der Phase der Ausschreibung. Auslöser für die Aufregung war eine Note von Beliris, die mit der Ausführung der Arbeiten beauftragt ist. Beliris ist eine seit 1993 bestehende Gemeinschaftseinrichtung der Region Brüssel-Hauptstadt und der belgischen Föderalregierung, über die sich der Föderalstaat an Invesitionen beteiligt, um der Rolle Brüssels als Hauptstadt und internationaler Standort (EU, NATO) Rechnung zu tragen. Dabei geht es um Verkehrsprojekte wie die Metro, aber auch die Erhaltung von Parks und denkmalgeschützten Gebäuden, sozialen Wohnungsbau, die Revitalisierung von Stadtvierteln oder etwa die Renovierung des Brüsseler Konservatoriums (eine weitere unendliche Geschichte).

Beliris ist aber nicht nur eine Finanzierungseinrichtung, sondern begleitet viele Projekte mit eigenem Personal auch inhaltlich, wie den Nordabschnitt der Metro 3. Die von Beliris betreuten Projekte werden regelmäßig in Zusätzen zu der ursprünglichen Vereinbarung von 1993 definiert, und die jährliche Finanzausstattung ist Gegenstand des föderalen Haushalts. Aktuell sind es 125 Millionen Euro.

Beliris reagiert in seinem Dokument auf die Angebote, die auf die Ausschreibung der Arbeiten für den neuen Tunnel mit seinen sieben Stationen eingegangen sind. Diese belaufen sich auf etwa 2,3 Milliarden Euro und liegen damit noch einmal 700 Millionen höher als die vorangegangenen Schätzungen – von den ursprünglichen Prognosen zu Beginn der Planungen vor zehn Jahren gar nicht zu reden. Beliris nennt in dieser Situation mehrere mögliche Optionen für das weitere Vorgehen: von einer Nachverhandlung mit den Anbietern über ein “Abspecken” (zum Beispiel den Verzicht auf Stationen) bis zu einem völligen Stopp des Projekts. Die Aufregung war auch deshalb besonders groß, weil die Information zeitgleich auch in den Medien bekannt wurde, angeblich durch eine Stellenanzeige, über die für das mit dem Projekt befasste Beliris-Personal andere Verwendungen gesucht wurden – woraus manche den Schluss zogen, der Stopp sei schon beschlossene Sache.

Die Verantwortlichen wurden also “auf dem falschen Fuß” erwischt, da eine sofortige Reaktion erwartet wurde, wie es jetzt mit dem Projekt weitergehen soll. Denn die Entscheidung liegt natürlich nicht bei Beliris, sondern bei den politischen Institutionen. Gefragt waren vor allem die Brüsseler Verkehrsministerin Elke Van den Brandt von den flämischen Grünen (Groen) und die für Beliris zuständige Föderalministerin Karine Lalieux (frankophone Sozialisten, PS). Die Antworten, wenn es denn welche gab, waren zunächst – verständlicherweise – ausweichend.

Sachliche Debatte im Brüsseler Parlament

Am Dienstag nach Pfingsten wurde das Thema dann kurzfrisitg auf die Tagesordnung des Verkehrsausschusses des Brüsseler Parlaments gesetzt, und Van den Brandt musste ausführlich Stellung nehmen. Auffällig war, dass in der eingehenden Debatte deutlich weniger aufgeregt zuging als noch ein paar Tage vorher in den Medien. Fast alle im Ausschuss vertretenen Parteien bekannten sich in ihren Wortmeldungen grundsätzlich zu dem Projekt, auch Vertreter der Opposition: frankophone Liberale (MR), flämische Nationalisten (N-VA), flämische Christdemokraten (CD&V), Les Engagés sowie die linke PTB/PVDA). Die Metro bilde des Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs in Brüssel, von dem aber die nördlichen Stadtteile (Schaerbeek, Evere) bisher nicht profitierten. Nach Angaben des Brüsseler Nahverkehrsunternehmens STIB/MIVB wird fast die Hälfte seiner Fahrgäste mit der Metro befördert, obwohl diese mit rund 40 Kilometern nur 7 Prozent des gesamten Streckennetzes von 650 Kilometern umfasst. Außerdem ist die Reisegeschwindigkeit doppelt so hoch wie diejenige von Tram und Bus, und sie ist nicht vom übrigen Verkehr abhängig.

Einigkeit besteht auch darüber, dass die Tramlinie 55, die heute zwischen Nordbahnhof und Bordet verkehrt, hoffnungslos überlastet ist, trotz des Einsatzes neuer, größerer Straßenbahnfahrzeuge. Breite Übereinstimmung gibt es auch darüber, dass es keinen Sinn ergibt, auf Dauer nur den Abschnitt zwischen Albert und Nordbahnhof als Metro zu betreiben. Der Generaldirektor von STIB/MIVB, Brieuc de Meeûs, hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Züge von dieser “Insel”, die nur an der Station “Porte de Hal” Verbindung zum übrigen Netz hat, regelmäßig auszutauschen oder zur Wartung in einen der Betriebshöfe zu bringen. Außerdem bedeute dies ein dauerhaftes Umsteigen an beiden Enden der Linie.

Nur die frankophonen Grünen (Ecolo), die der Metro seit jeher kritisch gegenüberstehen, sprachen sich dafür aus, jetzt erneut über Alternativen nachzudenken. Sie verweisen auf die – schon im vergangenen Jahr präsentierten – Vorschläge der Plattform “Avanti”, in der verschiedene Stadtteilinitiativen und Umweltschutzorganisation zusammenarbeiten. Diese laufen auf einen vollständigen Verzicht auf beide Abschnitte der neuen Metro hinaus; stattdessen soll das Tram- und Prémétro-Netz neu organisert werden, um schnell umsteigefreie Verbindungen ins Stadtzentrum zu schaffen (“Prémétro Plus”). Da Ecolo Teil der Regierungskoalition ist, zu deren Programm der Bau der Metro 3 gehört, löste diese Positionierung bei Vertretern der Opposition, aber auch der anderen Koalitionsparteien, einige Verwunderung aus. Dagegen wurde Ministerin Van den Brandt ausdrücklich dafür gelobt, dass sie, obwohl auch “grün”, zum Programm der Regierung steht.

Wer soll die gestiegenen Kosten tragen?

Besteht über die Notwendigkeit des Projekts weitgehende Einigkeit, kann man das hinsichtlich der Finanzierung nicht sagen. Das fängt schon bei der Frage an, wie hoch denn nun die Kosten wirklich sein werden und um wieviel höher als geplant oder gedacht. Ministerin Van den Brandt sprach im Ausschuss von Kosten bis zu vier Milliarden Euro. Dabei blieb aber unklar, ob das nur den Nordabschnitt betrifft oder das gesamte Vorhaben, mit oder ohne bereits vollendete Arbeiten, mit oder ohne zu erwartende Mehrkosten wegen des Tunnels unter dem Palais du Midi und mit oder ohne (etwa inflationsbedingte) Kostensteigerungen oder Risikozuschläge in der Bauphase, die ja auf jeden Fall noch einige Jahre anhalten wird (bisher war man von einer Fertigstellung des Südabschnitts 2025, des Nordabschnitts bis 2032 ausgegangen).

In Frage steht auch, ob die abgegebenen Angebote möglicherweise überhöht sind. Auf die Ausschreibung hatten sechs Kandidaten Interesse angemeldet und die Unterlagen angefordert. Es wurden aber nur zwei Angebote eingereicht. Belgien ist anscheinend ein zu kleiner Markt, und die Konkurrenz ist begrenzt. Manche Abgeordnete sehen die Kostenentwicklung von großen Bauprojekten als mehr oder weniger schicksalhaft an und können dafür viele Beispiele nennen, auch aus Belgien.

Sicher ist jedenfalls, dass die Kosten von der Region mit ihrem jährlichen Budget von 6 Millarden Euro allein nicht zu stemmen sein werden. Die Diskussion im Ausschuss drehte sich daher vor allem um mögliche alternative Finanzierungswege.

Im Fokus steht dabei die Föderalregierung, von der erwartet wird, dass sie sich stärker als bisher beteiligt, und dies auch für einen längeren Zeitraum. Im Rahmen der Beliris-Vereinbarung sind jährlich 50 Millionen Euro für die Metro “reserviert”. Eine Erhöhung dieses Anteils ohne Anhebung der Gesamtsumme würde zu Lasten anderer Projekte gehen, etwa des sozialen Wohnungsbaus. Das will niemand in Brüssel riskieren. Ob die Föderalregierung angesichts der bekannten Haushaltslage aber bereit sein wird, mehr für die Metro zu geben?

Auch die EU wird als möglicher Finanzier genannt, da sie (und ihre in Brüssel arbeitenden Bediensteten) vom Verkehrsangebot profitierten. Ein Darlehen der Europäischen Investitionsbank zur Anschaffung neuer Fahrzeuge (Metro, Tram, Bus) wurde Anfang des Jahres bereits vereinbart, über ein weiteres, nur für die Metro, ist man im Gespräch.

Ministerin Van den Brandt scheint auch auf Einnahmen aus der Citymaut zu spekulieren, die im Mobilitätsplan “Good Move” vorgesehen ist (siehe “Verkehrswende in Brüssel kommt” – Belgieninfo). Sie wird aber auch wissen, dass dieses Projekt ohne Abstimmung mit Flandern und der Wallonie kaum realisierbar ist. Von dort kommen die Pendler, die letztlich zum großen Teil diese Abgabe zahlen müssten. Es ist auch fraglich, ob die beiden Regionen bereit wären, sich auf anderem Weg an der Finanzierung dieses innerstädtischen Verkehrsprojekts zu beteiligen (auch wenn es Überlegungen gibt, die Metro irgendwann über Bordet hinaus bis zum Flughafen Zaventem zu verlängern). Es zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass Brüssel ohne sein Umland eigentlich keine Verkehrspolitik machen kann (weitere Beispiele sind das S-Bahn-Netz, Park and Ride-Plätze an der Peripherie oder der Ausbau des Brüsseler Autobahnrings).

Eher kritisch sehen viele die Mobilisierung privaten Kapitals, etwa in Form von Public-Private Partnerships. Gerade die jetzige Regierungsmehrheit möchte den öffentlichen Verkehr auch in öffentlicher Hand behalten. Und die Fahrpreise sollen auch nicht steigen.

Wie geht es weiter?

Was das aktuelle Hindernis auf dem Abschnitt Nordbahnhof – Albert angeht, läuft es auf einen Teilabriss des Palais du Midi (mit anschließendem Wiederaufbau) hinaus, so dass der Tunnel darunter fertiggestellt werden kann. Die Mehrkosten sollen bei 400 Millionen Euro liegen, und es ist unklar, wie lange sich die für 2025 vorgesehene Inbetriebnahme verzögern wird.

Die Entscheidung über die für den Nordabschnitt eingereichten Angebote steht für April 2024 an. Es ist also noch Zeit, diese inhaltlich eingehend zu prüfen, den Preis eventuell zu drücken und sich um eine Finanzierung außerhalb des Haushalts der Region Brüssel-Hauptstadt zu bemühen. Die Akteure sind nicht zu beneiden. Und dann sind da noch die Wahlen am 9. Juni 2024. Die Entscheidung über den Baubeginn des Südabschnitts fiel kurz vor der Wahl 2019. Wiederholen sich die Abläufe? An ein komplettes Scheitern mag man angesichts der bereits investierten Gelder und des breiten grundsätzlichen Konsenses im Parlament eigentlich nicht glauben. Aber länger wird es auf jeden Fall dauern. Wen wundert es…

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