
Von Heide Newson
Die Unesco-Kommission in Paris hat jüngst den Nachlass von Friedrich Nietzsche (1844-1900) in das Weltdokumenterbe aufgenommen. Grund genug für die Thüringer Landesvertretung und die Université Catholique de Louvain (UCL), zu einer Veranstaltung einzuladen, die unter dem Titel „Friedrich Nietzsche über „Vaterländerei“ und „gute Europäer“ stand. Nietzsches Gesamtwerk sowie das Konzept des guten Europäers wurde durch Prof Dr. Helmut Heit, Leiter des „Kolleg Friedrich Nietzsche“ und des Stabsreferats Forschung an der Klassik- Stiftung Weimar, spannend und verständlich beleuchtet. Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Antje Büssgen, Literaturwissenschaftlerin und Inhaberin des Lehrstuhls für deutsche Literatur an der UCL.
Prof. Heit war eigens von Weimar nach Brüssel gereist, um Nietzsches Konzept des „guten Europäers“ sowie dessen Argumente gegen die grassierende „Vaterländerei“ zu erklären. Angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage sind Nietzsches Reflexionen von ungeahnter Aktualität, was während des Vortrags und der anschließenden Diskussion in den Fokus gestellt wurde.
„Als Nietzsche im August 1900 in Weimar in der „Villa Silberblick“ starb, war er ein unzeitgemäßer Philosoph, weit entfernt davon, der moderne Klassiker par excellence zu sein, der er heute ist,“ so Prof. Büssgen in ihrer Einführung. Seine Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, habe in den folgenden Jahren die Villa Silberblick und das Werk ihres verstorbenen Bruders zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. So editierte sie im Jahr 1901 mit dem „Willen zur Macht“ eine eigenwillig auf Fälschungen beruhende Edition von Nietzsches Schriften, die in der Ära des Nationalismus und Faschismus eine lange und unheilvolle Wirkung entfaltete. Sie holte den belgischen Architekten Henry van de Velde nach Weimar, um die Villa Silberblick nach der neuesten Mode im Stil des Art Nouveau umzugestalten. Ferner gründete sie in Weimar das Nietzsche-Archiv, das den Nachlass ihres Bruders aufbewahrte, und nach dem Zusammenbruch am Ende des Zweiten Weltkriegs geschlossen wurde. Der Nachlass befindet sich nunmehr hauptsächlich im Goethe- und Schiller-Archiv sowie in der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek und der Klassik-Stiftung Weimar.
In seinem Vortrag stellte Prof. Heit den Nachlass von Nietzsche in den Vordergrund und schlug sodann Brücken zu dessen Haltung zur Vaterländerei und zur Konzeption des guten Europäers. Die Geschichte des Nachlasses sei spektakulär, so Heit mit Blick auf Nietzsches Schwester Elisabeth. Einerseits habe man ihr viel Material zu verdanken, andererseits habe sie in der ersten Hälfe des 20. Jahrhundert in Deutschland auf die Rezeption und Deutungen der Philosophie ihres Bruders im Nationalsozialismus eine unheilvolle Rolle gespielt. Heit zeigte Notizen und Entwürfe von Nietzsches Briefen. Von einem besonders schmeichelhaften Brief hatte sie behauptet, dass dieser an sie gerichtet sei, obwohl die Anschrift abgebrannt war und sich nicht erkennen ließ, an wen er nun wirklich adressiert war. Nietzsche war bekannt für seine scharfe Kritik an traditionellen moralischen und religiösen Vorstellungen. Er habe den berühmten Satz „Gott ist tot“ verkündet und somit den Verlust religiöser Gewissheiten für die moderne Gesellschaft. Er argumentierte, dass der Glaube an Gott seine Glaubwürdigkeit verloren habe und dass dies zu einer Krise des Nihilismus führen würde, dem Glauben an die Sinnlosigkeit des Lebens. Gedanken sollten wir uns zur Frage machen, ob es zu allem, was wir machen, ein finales Ziel gebe. Dass Nietzsches literarische Werke stilistisch vielfältig sind, seine Schriften oft provokativ, und seine Ideen zu seiner Zeit umstritten waren, untermauerte Heit mit vielen interessanten Beispielen. Gleichwohl habe er Schriftsteller wie Thomas Mann, Sigmund Freud und andere Künstler wie Richard Strauß inspiriert. Bis heute sei sein Werk Gegenstand intensiver Diskussionen in Philosophie, Literatur und anderen Bereichen. Und in China sei sein Name bereits im Jahr 1902 aufgetaucht.
Dann ging Heit auf die Vaterländerei ein, die Nietzsche als eine Form des Herdentriebs und der intellektuellen Beschränkung sah. Nach Nietzsches Auffassung verleite der Nationalismus Menschen dazu, sich mit oberflächlichen Merkmalen wie Sprache und Herkunft zu identifizieren und wahre individuelle und kulturelle Vielfalt zu vernachlässigen. Im Nationalismus sah er eine Gefahr für die europäische Kultur und den Fortschritt. Die Betonung des Nationalen führe zur Verkleinerung des Geistes, der eine freie unabhängige Entwicklung unabhängiger Individuen behindere. Er befürchtete, dass dies zu Konflikten und Kriegen führen würde. Stattdessen träumte er von einem geeinten Europa, in dem freie Geister und eine höhere Kultur entstehen könnten. Heit referierte ebenso über die positiven Aspekte in Nietzsches Nationalgefühl in Bezug auf die Schaffung von Einheit in Krisenzeiten. In seinem Denken überwogen allerdings die Kritik am Nationalismus und die Vision eines „guten Europäers, der über nationale Grenzen hinausblickt“. Ferner ging er auf Hitlers Verehrung, dessen Instrumentalisierung von Nietzsche sowie die Rezeption der Nazis ein. Diese bedienten sich selektiv und oft verzerrt einzelner Aspekte von Nietzsches Philosophie, um ihre eigene Ideologie zu legitimieren. Schlüsselbegriffe wie „Übermensch“, „der Wille zur Macht“, wurden aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und rassistisch und nationalistisch umgedeutet.
In der anschließenden Diskussion wurden Fragen zu Nietzsches Kritik an Künstlern, Vaterländerei, Gefahr der Betonung des Nationalen, die Vision eines „guten Europäers“ und Nietzsches Relevanz für die aktuelle Situation in Europa mit großem Interesse und viel Sachverstand diskutiert. Prof. Heit bot einen unvergleichlichen Einblick in die Werkstatt eines der einflussreichsten Denker der Moderne. Und dank seiner optimalen und verständlichen Erklärung brauchte man keine philosophischen Vorkenntnisse zu haben, um sich mit den Argumenten und Ideen des großen Philosophen unvoreingenommen auseinanderzusetzen, ihn zu verstehen und sie korrekt zu interpretieren.
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