Aktuell, Das Land, Politik

Belgien steht – wieder einmal – vor einer ungewissen Zukunft

Raoul Hedebouw © RTL info

Von Michael Stabenow

Knapp ein halbes Jahr vor den belgischen Parlamentswahlen zeichnet sich – wenig überraschend – eine äußerst schwierige und wohl auch abermals langwierige Regierungsbildung ab. Wie aus den Ergebnissen der neuesten Ipsos-Meinungsumfrage im Auftrag der Fernsehsender VTM und RTL sowie der Zeitungen Het Laatste Nieuws und Le Soir hervorgeht, ist der Zuspruch für die sieben Parteien der „Vivaldi“-Koalition weiterhin insgesamt schwach (DE GROTE PEILING. Open Vld wordt kleinste partij van Vlaanderen, kwart kiest voor Vlaams Belang | De Grote Peiling | hln.be)

In Flandern liegt der rechtsextreme Vlaams Belang weiter an der Spitze, obwohl die Partei gegenüber der vorangegangenen Umfrage 0,7 Prozentpunkte weniger und jetzt 25,1 Prozent aufweist. Boden gut machen konnte die gemäßigtere nationalistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever. Sie legte 1,8 Prozentpunkte zu und kann derzeit mit 22 Prozent rechnen. In Flandern dürfte die führende Position von Vlaams Belang und N-VA Überlegungen zu einer Koalition der beiden Parteien beflügeln. Zuletzt hatte sich der flämische Ministerpräsident Jan Jambon (N-VA) – anders als Parteichef De Wever – durchaus aufgeschlossen für ein Bündnis mit den Rechtsextremen gezeigt.

Die politische Lage im Nachbarland Niederlande, die zumindest die Duldung einer von der Partei für die Freiheit (PVV) des rechtspopulistischen Islamkritikers Geert Wilders geführten Regierung durch bürgerliche Parteien möglich erscheinen lassen, wird in Belgien mit Argusaugen verfolgt. Wilders scheint sich bestens mit Vlaams Belang-Chef Tom Van Grieken zu verstehen. Ob Vlaams Belang und N-VA in Flandern eine Koalition bilden werden, erscheint jedoch keineswegs sicher. So gilt für diesen Fall ausgeschlossen, dass die N-VA, wie von 2014 bis 2018, Teil der föderalen Regierung werden kann.

Im Gegensatz zu dem auf eine flämische Unabhängigkeit ohne Wenn und Aber dringenden Vlaams Belang steht für die N-VA eine möglichst einvernehmliche Lösung mit den französischsprachigen Parteien im Vordergrund. Zudem zeigen die meisten Umfragen, dass nur eine kleine Minderheit der Wähler in Flandern eine staatliche Unabhängigkeit des Nordteils Belgiens wünscht.

Dennoch dürfte Belgiens politisches Puzzle nach den kommenden Wahlen noch unübersichtlicher sein. Symptomatisch ist, dass die flämischen Liberalen (Open VLD) von Premierminister Alexander De Croo inzwischen in den Umfragen mit derzeit mickrigen 7,1 Prozent – gegenüber 13,5 Prozent im Juni 2019 – nur noch an siebter Stelle liegen. Dabei ist De Croo in Flandern hinter De Wever und Van Grieken der drittpopulärste Politiker. In Wallonien liegt er hinter seiner Amtsvorgängerin Sophie Wilmès von den französischsprachigen Liberalen (MR) in der Popularitätsskala an zweiter, in der Hauptstadtregion sogar an erster Stelle.

Dass De Croos Popularität sich nicht in den Umfragen auszahlt, hat verschiedene Gründe. In Flandern, wo seine Partei ausschließlich zur Wahl steht, wird dem auf Ausgleich bedachten Regierungschef oft vorgehalten, zu nachgiebig gegenüber den anderen Parteien zu sein. Zudem haben die Rücktritte zweier beliebter Minister der Partei offenbar geschadet.

Der – föderale – Justizminister Vincent Van Quickenborne nahm seinen Hut, weil die Brüsseler Staatsanwaltschaft den Attentäter, der im Oktober zwei schwedische Fußballfans erschossen hatte, trotz vorliegender Hinweise auf seine Gefährlichkeit und ein Auslieferungsbegehren aus Tunesien unbehelligt gelassen hatte. Zudem hatte der – flämische – Innenminister Bart Somers, der wieder Bürgermeister in seiner Heimatstadt Mecheln werden möchte, überraschend früh seinen Rückzug aus dem Amt bekanntgegeben.

Ganz von der Politik – zumindest bis auf weiteres – hat sich Conner Rousseau, der bisherige Vorsitzende der flämischen Sozialisten (Vooruit), verabschiedet. Zum Verhängnis wurden dem lange als „Shooting star“ der belgischen Politik geltenden 31 Jahre alten Parteichef seine rassistischen Beschimpfungen – im betrunkenen Zustand – von Angehörigen der Roma-Gemeinschaft in seiner Heimatstadt Sint-Niklaas. Vooruit fiel in der jüngsten Umfrage von 15,4 auf 13,8 Prozent zurück. Das sind immerhin noch drei Prozentpunkte mehr als bei der Parlamentswahl im Juni 2019.

Die meisten Vivaldi-Parteien stehen in der jüngsten Umfrage schlechter da als 2019. Auffällig ist jedoch, dass die Grünen, möglicherweise auch durch Zuspruch ehemaliger und enttäuschter Vooruit-Sympathisanten, in der jüngsten Umfrage um 2,8 Prozentpunkte auf 9,2 Prozent zulegen konnten. 2019 hatte die Partei in Flandern mit 9,8 Prozent nur wenig mehr erreicht. Etwas berappeln konnten sich in Wallonien die französischsprachigen Sozialsten (PS). Mit einem Zuwachs um mehr als zwei Prozentpunkte kommen sie jetzt auf 23,9 Prozent, liegen damit aber immer noch um 2,2 Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2019.

Die Sozialisten stehen damit im Süden des Landes weiter an der Spitze – vor den Liberalen (MR) des schillernden Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez. Seine Partei pendelt – wie schon 2019 – um die Marke von 20 Prozent. Für die auffälligste Verschiebung in der jüngsten Umfrage hat die linkspopulistische Partei PTB/PVDA unter ihrem Parteichef Raoul Hedebouw gesorgt. Während sie in Wallonien fünf Prozentpunkte einbüßte und nun bei 14 Prozent liegt, katapultierte sie die Umfrage in der Region Brüssel um vier Prozentpunkte auf 19,3 Prozent nach oben – und damit zur (derzeit) stärksten Partei.

Im Fernsehsender RTL nannte der Politikwissenschaftler Pascal Delwit mögliche Ursachen für die widersprüchlich erscheinende Entwicklung. Dass die Partei in Brüssel so gut dastehe, erkläre sich einerseits durch ihre klare und kritische Haltung zum knappen Wohnraum in der multikulturellen Hauptstadt. Andererseits erkläre sich der Zulauf für die Partei wohl auch durch ihre „sehr propalästinensische Position“ zum Krieg in Gaza. In Wallonien könne die Partei damit hingegen nicht punkten; zudem sei die PTB zuletzt bei sozialpolitischen Themen im Süden des Landes in die Defensive geraten.

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.