Conner Rousseau © Christophe De Muynck
Von Michael Stabenow
Am vergangenen Montag, dem 13. November, ist Conner Rousseau 31 Jahre alt geworden. Von etwaiger Feierlaune ist nichts geblieben. Vier Tage später, am Freitagabend, zog der seit November 2019 amtierende Parteichef der flämischen Sozialisten (Vooruit) selbst die Reißleine und verkündete nach einer eilends einberufenen Vorstandssitzung seinen Rücktritt. „Ich entschuldige mich bei allen, die ich enttäuscht habe“, sagte Rousseau und fügte hinzu, dass er auch von sich selbst enttäuscht sei.
Schon seit Monaten schien der Stern von Rousseau, der als Hoffnungsträger der lange fast in der politischen Versenkung verschwundenen flämischen Sozialisten galt, im Sinken begriffen zu sein. Ermittlungen zu Vorwürfen wegen angeblicher sexueller Belästigungen von drei jungen Männern sorgten für Wirbel in den Medien, auch wenn sie ohne Folgen eingestellt wurden.
Anfang September geriet Rousseau wieder in die Schlagzeilen, als Berichte über wüste, rassistisch klingende nächtliche Beschimpfungen gegenüber Roma-Angehörigen in einer Kneipe seines Heimatsorts Sint-Niklaas sowie abfällige Bemerkungen über Polizisten auftauchten. Als am Donnerstag und Freitag die Zeitung „Het Nieuwsblad“ neue Zitate des nach eigenem Eingeständnis “besoffenen” Rousseau aus Unterlagen der Justiz veröffentlichte, schien das Schicksal des einstigen Shootingstars besiegelt zu sein.
Eines der Rousseau zugeschriebenem Zitate lautet: „Mein Appartementblock ist rassistisch, und ich verstehe die gut. Wir müssen ehrlich sein: es sind immer diese braunen Männer. Von mir aus könnt Ihr die viel härter anpacken. Ihr müsst viel mehr Euren Knüppel einsetzen. Ich kann das braune Gesindel nicht ganz und gar rausschmeißen“. Am Freitagabend sprach Rousseau, sichtlich zerknirscht, von „einem hässlichen Fehler, für den ich mich schäme“.
Es war der – vielleicht nur vorläufige – Schlusspunkt einer politischen Karriere, wie sie in Belgien nur selten vorkommt. Im November 2019 war Rousseau, Spross zweier sozialistischer Mandatsträger, im Alter von gerade einmal 27 Jahren an die Parteispitze gewählt worden. Mit seinem unbekümmerten, nicht zuletzt jüngere Wähler ansprechenden Politikstil führte er die Partei von Umfragehoch zu Umfragehoch.
Vooruit liegt zwar hinter dem rechtsextremen Vlaams Belang und der nationalkonservativen Neu-Flämischen Allianz (N-VA). Mit derzeit rund 15 Prozent rangiert die Partei jedoch deutlich vor den in der Brüsseler „Vivaldi“-Koalition mitregierenden Christlichen Demokraten (CD&V), den Liberalen (Open VLD) von Premierminister Alexander De Croo und den Grünen.
Rousseau kam nicht nur bei jungen Wählern gut an – auch im belgischen Parteiestablishment schien er sich wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. 2020, als Belgien während der Corona-Pandemie ohne handlungsfähige Regierung dastand, unterhielt er offene Gesprächskanäle mit der N-VA des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever und wirkte vermittelnd. Auch mit dem nicht minder temperamentvollen Paul Magnette, dem Bürgermeister von Charleroi und Vorsitzenden der französischsprachigen sozialistischen Schwesterpartei PS, kam Rousseau bestens zurecht.
Dass er nicht nur auf die Jugend, sondern auch auf erfahrene Politiker zählen konnte, bewies Rousseau mit der Wahl von zwei Ministern: So holte er 2019 den damals 64 Jahre alten Frank Vandenbroucke, der schon in den neunziger Jahren belgischer Außen- und Sozialminister war, als Gesundheitsminister in die Regierung zurück. Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie erwies sich das als eine kluge Wahl. Auch Caroline Gennez, 2011 im Groll aus dem Amt der Parteivorsitzenden ausgeschieden, tauchte 2022 als Entwicklungsministerin aus dem politischen Niemandsland wieder auf.
Dass auch Rousseau selbst Ambitionen auf ein hohes Regierungsamt hegte, hatte er im Juni 2020 in einem Interview mit der Zeitung „De Morgen“ verraten. Auf die Frage, ob er Premierminister werden wolle, hatte er geantwortet: „Das wäre prima, ja. Es ist so verkehrt, dass man in diesem Land keinen Ehrgeiz haben darf. Ich will Wirkung entfalten, und als Premier kann man das.“
Dieser Traum ist vorläufig ausgeträumt, auch wenn Rousseau in seinem Rücktrittsstatement um eine „zweite Chance“ gebeten hat. Seine Kandidatur für einen Parlamentssitz bei der Wahl im kommenden Juni scheint nicht in Frage gestellt worden zu sein. Zur Nachfolgerin Rousseaus an der Parteispitze wurde, zunächst geschäftsführend, die ebenfalls 31 Jahre alte Melissa Depraetere bestimmt. Die westflämische Politikerin war bisher Fraktionschefin im föderalen Parlament. Sie wird diesen Posten jedoch abgeben. Rousseau sagte: “Der Kampf geht weiter – ohne mich als Vorsitzender von Vooruit.“ Es müsse nun um das „Wesentliche“ gehen – das Streben nach Chancengleichheit, höheren Löhnen, den Zusammenhalt der Gesellschaft, gute Ausbildung und wider den Rechtsextremismus.
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