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Nicht nur Wohnungen und Autos: wie Brüssel bis 2050 klimaneutral werden will

© Bruxelles Environnement

 

Von Reinhard Boest

Vor knapp zwei Jahren hat die Europäische Union das Klimagesetz (“European Green Deal“) verabschiedet, mit dem das Ziel verbindlich festgeschrieben wurde, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Seither erarbeiten die Mitgliedstaaten ihre Fahrpläne mit den Maßnahmen und Etappen auf dem Weg dorthin. Während das Thema etwa in Deutschland aktuell im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und für andauernden politischen Streit sorgt, ist in Belgien – abgesehen vom Auf und Ab in Sachen Laufzeit der Atomkraftwerke – wenig Aufregung zu spüren. Dabei kommen auch hier einige “Zumutungen” auf die Bürgerinnen und Bürger zu, insbesondere wenn sie Wohnungs- oder Hauseigentümer (in Belgien eine Mehrheit!) oder Autofahrer sind.

Beispielhaft dafür ist die Fortschreibung des “Luft-, Klima- und Energieplans” (PACE), den die Regierung der Region Brüssel-Hauptstadt vor einigen Tagen angenommen hat und der in den aktualisierten Energie- und Klimaplan einfließen soll, den Belgien bis Ende Juni der Europäischen Kommission vorlegen muss. Während die Aktionspläne der Wallonie, Flanderns und auch der Föderalregierung derzeit nur bis 2030 reichen, geht man in Brüssel teilweise bereits darüber hinaus. Die Föderalregierung und die Wallonie wollen die europäischen Vorgaben erreichen, bis 2030 die Kohlendioxidemissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Der aktuelle Plan der flämischen Regierung sieht dagegen nur eine Reduzierung um 40 Prozent vor. Schon seit Jahren haben Föderalregierung und Regionen Mühe, eine gemeinsame Linie zu finden und sich über die Lastenverteilung zu einigen.

Der Brüsseler Plan umfasst alle Bereiche, für die die Region zuständig ist, von Wirtschaft über Verkehr, Wohnen, Stadtreinigung bis Bauplanung und Forschung. Jeder Regionalminister muss seinen Beitrag leisten, die Koordinierung liegt beim grünen Umwelt- und Energieminister Alain Maron. Das Dokument beschreibt – mit einem Zeitplan – die konkreten Maßnahmen zur Erreichung des Ziels der Klimaneutralität, soll die Dekarbonisierung Brüssels beschleunigen, dabei aber Hilfen gegen die zunehmende Energiearmut vorsehen.

Muss jetzt jeder seine Heizung ersetzen?

Schon in diesem Jahr sollen Subventionen für fossile Energien entfallen, und es soll Steuererleichterungen für die energetische Sanierung von Wohnungen geben. Ab 2025 werden die Regelungen für Heizungen und die energetischen Anforderungen an Wohnungen schrittweise verschärft.

Verboten wird der Einbau von mit Öl und Gas betriebenen Heizungen in Neubauten ab 2025, bei umfassenden Sanierungen bestehender Gebäude ab 2030. Das gilt auch für Holz (Pellets), wenn es sich um eine Zentralheizung handelt. Ab 2035 dürfen Ölheizungen überhaupt nicht mehr neu eingebaut werden, und zu diesem Zeitpunkt bestehende Anlagen dürfen danach nur noch für höchstens 15 Jahre weiterbetrieben werden. Neue Kohleheizungen sind schon seit 2021 untersagt. Auch mit Holzpellets betriebene Öfen geraten zunehmend in den Fokus, vor allem wegen der Feinstaubemissionen. Außer für große Installationen (Zentralheizungen) ist aber nicht von Einschränkungen die Rede.

Was bestehende Gasheizungen angeht, ist der Plan weniger präzise. Immerhin werden derzeit fast 80 Prozent der Wohnungen in Brüssel mit Gas geheizt, und es gibt ein umfassendes Gas-Versorgungsnetz. Ein Einbauverbot ist außer bei Neubauten und umfassenden Sanierungen derzeit noch nicht vorgesehen. Bis 2050 soll die Gebäudeheizung dennoch vollständig dekarbonisiert werden, und man setzt dafür vor allem auf Wärmepumpen, möglicherweise auch in Kombination mit – dekarbonisiertem – Gas. Die Verfügbarkeit von Biogas ist allerdings in der Region begrenzt und würde auf keinen Fall ausreichen, um das jetzt genutzte Erdgas zu ersetzen. Zu einer wesentlichen CO2-Reduzierung könnte eine Erneuerung bestehender Gasheizungen beitragen. Deren Durchschnittsalter liegt in Brüssel bei 15 Jahren, und zwei Drittel haben keine Rauchgaskondensation. Dennoch soll die bisher noch mögliche Förderung einer neuen Gasheizung entfallen und (unter anderem) durch eine Unterstützung hybrider Wärmepumpen (Gas/Strom) ersetzt werden. Auch wenn Einzelheiten und Zeitplan noch im Fluss sind: für Gasheizungen scheinen die Tage gezählt, und die Zukunft sieht man in der Wärmepumpe.

Energetische Sanierung des Wohnungsbestands

Auch für die energetische Sanierung des Wohnungsbestands gibt es einen Zeitplan: bis 2030 müssen alle Haus- und Wohnungseigentümer einen Renovierungsplan aufstellen, wie sie bis 2050 einen energetischen Standard erreichen, der mindestens dem Energieeffizienz-Niveau (PEB) der Klasse “C” entspricht, also einem Energieverbrauch von 100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Zur Erinnerung: Die in Brüssel geltende Skala der energetischen Bewertung reicht derzeit von “A” (bis 45 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr) bis “G” (über 346 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr). Dem bis 2050 angestrebten Niveau (Kategorien A bis C) entsprechen derzeit in Brüssel im Durchschnitt nur 16 Prozent der Immobilien (18 Prozent der Wohnungen und nur 4,4 Prozent der Einzelhäuser). Von den etwa 580.000 Wohnungen in Brüssel haben aktuell allerdings nur knapp die Hälfte überhaupt ein PEB-Zertifikat. Vorgeschrieben ist es heute nur bei Verkauf oder Vermietung (sowie noch bis Oktober 2023 auch für die Indexierung der Miete, siehe Schwierige Haushaltsverhandlungen auch in der Region Brüssel – Belgieninfo); bis 2031 soll es für alle Wohnungen obligatorisch sein. Ab 2033 sollen keine Wohnungen mehr zu den Klassen F und G gehören – das sind heute 45 Prozent des Bestandes. Nun gibt es durchaus Zweifel an der Objektivität der Kriterien für die Zertifikate. So hat ein Rechercheteam des französischsprachigen Fernsehens RTBF vor einigen Wochen für ein und dieselbe Wohnung testweise Zertifikate erstellen lassen und dabei fünf verschiedene Ergebnisse bekommen, die zwischen C und E lagen. Dennoch kann es keinen Zweifel geben, dass der Bedarf an energetischer Sanierung enorm ist und dass viele die damit verbundenen Lasten nicht allein tragen können, nicht nur die mit den geringsten Einkommen.

Welche Förderung gibt es?

Die Regierung ist sich bewusst, dass die Energiewende “solidarisch und gerecht” sein muss, wenn sie sich auf Zustimmung stützen soll. Der Plan sieht deshalb vor, bereits bestehende Hilfen fortzusetzen und zu verstärken. Dazu gehören neben einer Begleitung der Planungen und Arbeiten finanzielle Hilfen in Form von Zuschüssen, Steuererleichterungen und zinsfreien Krediten, wie die “Renolution-Prämie” (bis zu 50 Prozent der Investition) oder den zinsvergünstigten “Ecoreno-Kredit” (der nicht nur für Eigentümer, sondern auch für Mieter zugänglich ist). Gezielte Förderungen soll es auch für besonders Bedürftige, ältere Menschen und Wohnungseigentümergemeinschaften geben. Auch gemeinsame Projekte, die mehrere Gebäude in einem Häuserblock (îlot) einbeziehen, können unterstützt werden.

Verbrennerautos sollen aus der Stadt verschwinden

Ab 2030 sollen Dieselautos und ab 2035 auch Benzinautos in Brüssel nicht mehr fahren dürfen. Dazu sollen die schon jetzt geltenden Regeln für Niedrigemissionszonen (“Low Emissions Zones”, LEZ) schrittweise verschärft werden. Dafür hatte die Region bereits im Juli 2022 einen Zeitplan vorgelegt. Um den Umstieg auf emissionsfreie Mobilität zu fördern, sollen bis 2025 25.000 gesicherte Abstellplätze für Fahrräder und bis 2035 11.000 öffentliche Ladestationen für Elektroautos entstehen. All dies ist auch Teil des Mobilitätsplans “Good Move”, mit dem die Regierung seit einigen Jahren eine Verkehrswende in der Stadt erreichen will, die aber nur schleppend vorankommt (siehe Mobilitätsplan Brüssel – “Good Move” in der Sackgasse? – Belgieninfo).

Weitere Maßnahmen

Ab 15. Mai 2023 werden die Regeln für die Mülltrennung verschärft, insbesondere für Lebensmittel- und Gartenabfälle (siehe der-orangefarbene-muellsack-wird-in-bruessel-obligatorisch – Belgieninfo). 2026 soll eine Anlage zur Biomethanisierung in Betrieb gehen, und bis 2030 soll die Menge an Müll, der verbrannt wird, um 30 Prozent sinken.

Beim Umstieg auf erneuerbare Energien bei der Stromerzeugung setzt die Region vor allem auf Photovoltaik. Hier sollen vor dem Hintergrund einer sehr dynamischen Entwicklung die bisherigen Ausbauziele noch einmal um 20 Prozent angehoben werden.

Auch wenn es mit dem Plan vor allem um eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen geht, muss sich die Region auch den zu erwartenden Folgen des Klimawandels stellen und ihr Gebiet dafür widerstandsfähiger machen. Dazu gehören etwa Maßnahmen gegen die Versiegelung der Böden, ein integriertes Regenwasser-Management, mehr Grün in der Stadt, vor allem in den dichtbesiedelten Stadtteilen, und die Schaffung von Frischluftkorridoren gegen Hitzeinseln. Konkret sollen bis 2024 schon einmal 20 Schulhöfe grün umgestaltet werden.

Die Umsetzung des Plans muss jetzt schrittweise durch konkrete Rechtsakte erfolgen. Es bleibt abzuwarten, wieviel davon noch bis zur Wahl in einem Jahr auf den Weg gebracht werden kann. Im Parlament der Region ist man sich zwar parteiübergreifend über das Ziel der Klimaneutralität einig (zumal dieses von der EU “vorgegeben” ist), über den Weg dahin gibt es aber durchaus unterschiedliche Auffassungen.

Wer die Pläne im Detail konsultieren möchte:

Luft-, Klima- und Energieplan Brüssel (Aktualiseirung April 2023): https://environnement.brussels/media/9037/download?attachment

Beitrag der Föderalregierung zum Nationalen Integrierten Energie- und Klimaplan (Aktualisierung April 2023): https://climat.be/doc/24.04.2023-draft-fekp-fr.pdf

Flämischer Energie- und Klimaplan bis 2030 (Aktualisierung November 2021; über die Fortschreibung gibt es derzeit Anhörungen im zuständigen Parlamentsausschuss): https://assets.vlaanderen.be/image/upload/v1659456490/Visienota_bijkomende_maatregelen_aaxnal.pdf

Wallonischer Luft-, Klima- und Energieplan bis 2030 (Aktualisierung März 2023): https://awac.be/wp-content/uploads/2023/03/PACE-2030_adopte-GW-21-mars-2023.pdf

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