
… heute sind wir einen Schritt weiter? Zur politischen Situation in Brüssel fehlen nur noch die Worte.
Von Reinhard Boest
Vierzig Gespräche in zwei Wochen mit allen potentiellen Partnern einer künftigen Brüsseler Regionalregierung – und am Ende stehen die beiden Vermittler Elke Van Den Brandt und Christophe De Beukelaer doch mit leeren Händen da. Am Montag mussten die flämische Grüne und der Brüsseler “Les Engagés”-Vorsitzende der Presse mitteilen, dass es offenbar keine ausreichende Bewegung bei den Positionen gibt. Die Enttäuschung war beiden anzumerken, verbanden sich doch mit ihrem von den üblichen Formaten abweichenden Ansatz gewisse Hoffnungen. Sie hatten versucht, über die Grenzen der Sprachgruppen hinweg Lösungen zu suchen. Denn vordergründig ging es darum, dass sich auf beiden Seiten mehr oder weniger festgefügte Mehrheiten für eine Koalition gebildet hatten, einzelne aber mit Partnern der anderen Seite keinesfalls zusammenarbeiten wollen. Das gilt insbesondere für die französischsprachigen Sozialisten (PS), die eine Koalition mit den flämischen Nationalisten von der N-VA kategorisch ausschließen, so dass die Gespräche seit November blockiert sind (Belgieninfo hat darüber regelmäßig berichtet, siehe zuletzt https://belgieninfo.net/kompromisssuche-in-vermintem-gelaende/).
Am Montag machte dann vor allem der Vorsitzende der flämischen Liberalen (OpenVld) in Brüssel, Frédéric De Gucht, noch einmal nachdrücklich klar, dass er auf jeden Fall die N-VA in der Koalition halten und sie nicht durch die flämischen Christdemokraten von der CD&V ersetzt sehen will, wie es Van Den Brandt und De Beukelaer als einzigen Ausweg ausgemacht hatten. Der Vorsitzende der französischsprachigen Liberalen (MR), Georges-Louis Bouchez, äußerte sich ambivalent und verlangte “Garantien” – für die Zustimmung zu einer anderen Mehrheit. Bezeichnend war, dass er – und nicht der Brüsseler MR-Vorsitzende David Leisterh, der immer noch als nächster Ministerpräsident favorisiert wird – für seine Partei sprach.
Die Reaktion in den Medien auf diesen erneuten Fehlschlag kann man mit Fassungslosigkeit am besten beschreiben. Die handelnden Akteure verschlössen die Augen vor der katastrophalen Lage der Hauptstadtregion, die vor einem finanziellen Abgrund stehe. Sie nähmen in Kauf, dass der Region das Geld ausgehe, dass die Kreditwürdigkeit von der Ratingagenturen herabgestuft werde, kurz, dass ein Shutdown bei Verwaltung und Dienstleistern wie dem Nahverkehr oder der Müllabfuhr drohe.
Auch die Schuldzuweisungen sind seit Monaten dieselben: wahlweise die Sozialisten, die ihre Wahlniederlage nicht realisiert hätten, oder die flämischen Nationalisten, die mehr oder weniger offen die Demontage einer eigenständigen Hauptstadtregion betrieben. Als Beleg wird auf die von der neuen Arizona-Koalition geplante Zusammenlegung der – derzeit sechs – Brüsseler Polizeizonen verwiesen, die sogar von Bürgermeistern aus den Koalitionsparteien abgelehnt wird. Dass es bei den frankophonen Belgiern (nicht nur in Brüssel) ein Misstrauen gegen Premierminister Bart De Wever von der N-VA gibt, hat gerade die letzte Meinungsumfrage gezeigt. Auf Seiten des PS wird auch befürchtet, dass der MR die N-VA auch deshalb in der Regionalregierung haben möchte, damit beide Parteien als Koalitionspartner der föderalen Ebene mehr Druck auf Brüssel ausüben können. Umgekehrt erwarten die Liberalen (auch der OpenVld) bei einer Mitarbeit der N-VA in Brüssel einen besseren Draht zur Föderalregierung, auf die man in vieler Hinsicht angewiesen sei. Eine Koalition mit MR, OpenVld und N-VA dürfte dem PS auch deswegen nicht gefallen, weil dann die wirtschaftsliberale Ausrichtung noch stärker würde mit Folgen insbesondere für die Sozial- oder Wohnungspolitik in Brüssel. Aber eine Drohung mit der – rechnerisch möglichen – “linken” Mehrheit im Brüsseler Parlament ist wenig realistisch, da es auch hier mehrere „No Go’s“ gibt.
Nachdem die beiden Vermittler aufgegeben haben, gibt es im Augenblick niemanden, der (oder die) das Ruder übernimmt. Immerhin haben die potentiellen Koalitionskandidaten vereinbart, dass man sich in dieser Woche noch einmal treffen will. Die Erfolgsaussichten sind aber gering, wenn sich niemand bewegen will. Für einige Parteien spielen offenbar auch Anliegen oder Probleme eine Rolle, die mit Brüssel nicht oder nur am Rande zu tun haben. Die OpenVld hat mit dem Bedeutungsverlust in Flandern, wo sie in einer jüngsten Meinungsumfragen auf mickrige sechs Prozent abgerutscht ist, aber auch auf der föderalen Ebene zu kämpfen. Sie versucht daher die die Schlüsselrolle zu nutzen, die sie in Brüssel spielen kann. Der PS ist nach der Wahlniederlage mit einer “Neu-Erfindung” beschäftigt. Der MR muss zur Kenntnis nehmen, dass er nach dem Wahlsieg im vergangenen Juni in den Umfragen schon wieder zurückfällt, und rechnet sich vielleicht einen “Deal” mit den Sozialisten über die Besetzung des noch immer vakanten Bürgermeisterpostens in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek aus. Leider tun viele der handelnden Akteure alles dazu, verbreitete Vorurteile über Politik und Parteien in Belgien zu bestätigen – nicht zuletzt jenen, dass das Land eigentlich unregierbar sei.
Man kann sich auch kaum vorstellen, wie man nach Monaten bitterer Auseinandersetzungen eine vertrauensvolle und stabile Zusammenarbeit hinbekommen will, die für die Bewältigung der tiefgreifenden Probleme der Hauptstadtregion notwendig wäre – auch mit der Föderalregierung und den anderen Regionen. Wenn man denn mit Verhandlungen endlich mal anfangen würde.
English: https://belgieninfo.net/wp-content/uploads/2025/03/Gov-Bru-EN.pdf
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