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Ein heißer Herbst in Belgien

Regierungskrise durch Sparbeschlüsse abgewendet – aber die Protestwelle gegen die Arizona-Koalition erschüttert das Land  und ebbt nicht ab

Von Michael Stabenow

War es Zufall oder nicht? Wohl eher nicht. Just zu dem Zeitpunkt, als Belgien am ersten von drei Streiktagen aus Protest gegen den Sparkurs der Arizona-Koalition erwacht ist, konnte Premierminister Bart De Wever am Montag kurz vor Morgengrauen mit einem Kompromiss seiner Regierung zur Haushaltsentlastung in den kommenden Jahren aufwarten. Er soll den Staatshaushalt bis 2030 um 9,2 Milliarden Euro statt um die bisher als Zielmarke vorgegebenen 10 Milliarden Euro entlasten – und so den EU-Stabilitätsvorgaben angemessen Rechnung tragen.

Wenig hatte in den vergangenen Tagen auf eine Einigung hingedeutet, allenfalls die zuletzt weitgehend unterbliebenen öffentlichen Misstöne aus dem Regierungslager. Dennoch galt es zuletzt als wahrscheinlich, dass im Kreis der fünf Koalitionspartner bis zu der offiziell von König Philippe, de facto aber von De Wever selbst gesetzten Frist des 26. Dezember weiter um Millionen hier und Milliarden dort geschachert werden müsste.

Dass es, diskret hinter den Kulissen vorbereitet, anders kommen könnte, hatte sich erst Ende vergangener Woche angedeutet, als erste Hinweise auf einen Zusammentritt des sogenannten Kernkabinetts die Runde machten. Ihm gehören neben De Wever die aus den Reihen seiner flämisch-nationalistischen N-VA, den flämischen Sozialisten (Vooruit) und Christdemokraten (CD&V) sowie den französischsprachigen Liberalen (MR) und der zentristischen Partei „Les Engagés“ kommenden Stellvertreter an.

Nach einer rund 20 Stunden dauernden Sitzung konnte De Wever auf einer Pressekonferenz Vollzug melden. De Wever wird die Beschlüsse am Mittwoch im Parlament erläutern. Voraussichtlich am Freitag dürften die Abgeordneten des Arizona-Lager der Regierung das Vertrauen aussprechen.

De Wever: „Es hat gewiss Barmherzigkeit gegeben“

Es sei nicht einfach gewesen, aber nun sei der haushaltspolitische Kurs für die kommenden Jahre klar abgesteckt worden, erläuterte der Regierungschef. Es gehe darum, Anreize zur Arbeit zu schaffen und die Solidarität zu fördern. „Das ist für mich der durchgehend durch diese Vereinbarung führende rote Faden. Es hat gewiss Barmherzigkeit gegeben“, sagte ein sichtlich erleichterter De Wever.

Gegenüber den vor allem von MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez und den flämischen Sozialisten abgelehnten ursprünglichen Vorschlägen hat es insbesondere in zwei Punkten Abstriche gegeben: der Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie das einmalige Aussetzen der automatischen Koppelung von Löhnen und Gehältern an die Inflationsrate.

Ein Flickenteppich von Beschlüssen

Die jetzt vereinbarten Beschlüsse muten dagegen wie ein Flickenteppich verschiedenster Maßnahmen an. Wie geplant sollen die Kosten im Gesundheitswesen langsamer als bisher steigen (siehe https://belgieninfo.net/der-belgische-gesundheitshaushalt-2026-steht-oder-doch-nicht/). Die belgischen Haushalte werden insbesondere die Neuregelung zur Mehrwertsteuer in ihren Geldbeuteln zu spüren bekommen. Der Satz auf Abholgerichte, nicht zuletzt beim für viele Einwohner unvermeidlichen Gang zur Frittenbude, für Übernachtungen in Hotels und auf Zeltplätzen soll künftig 12 (statt 6) Prozent betragen. Auch beim Kinobesuch warten auf die Kunden höhere Preise.

Erdgas soll teurer, Strom billiger werden

Die beschlossene neue Abgabe auf Erdgaslieferungen wird ebenfalls zusätzliche Mehreinnahmen bescheren. Die dagegen in Aussicht gestellten niedrigeren Strompreise sollen nicht nur Privatpersonen zugutekommen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Unter dem Strich soll dies 1,3 Milliarden Euro mehr in die Staatskasse spülen und – durch einen dann niedrigeren Gasverbrauch – auch die Umwelt entlasten. Dies soll auch ein Nebeneffekt der künftig auf zehn Euro steigenden Abgabe auf Kurzstreckenflüge sein. An den Tankstellen des Landes dürften die Preise für Benzin und Diesel durch eine höhere Mineralölsteuer ansteigen.

Auf die von außerhalb der EU, nicht zuletzt aus China und von Anbietern wie Temu und Shein kommenden Päckchen soll eine „Abgabe“ von jeweils zwei Euro fällig werden (wie das auch etwa in Frankreich vorgesehen ist). Diese Variante wird wohl auch deshalb gewählt, weil die Erhebung von Einfuhrzöllen in die Zuständigkeit der EU fällt, in deren Kassen die Einnahmen daraus fließen. Es gibt aber auch durchaus Bedenken, ob eine derartige Abgabe mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) vereinbar ist.

Auch die Europäische Kommission hat bereits im Frühjahr einen entsprechenden Vorstoß unternommen, der eine entsprechende „Verwaltungsgebühr“ bei Importen im Wert von weniger als 150 Euro ermöglichen soll. Außerdem will die Kommission die Zollbefreiung solcher Päckchen abschaffen und damit mehr Einnahmen für den EU-Haushalt ermöglichen.

Einschnitte im Gesundheitswesen

Entlastungen für den Haushalt in Höhe von bis zu 250 Millionen Euro verspricht sich die Regierung davon, die Kosten für das Gesundheitswesen nicht mehr um bis zu drei, sondern höchstens um 2,5 Prozent ansteigen zu lassen. Sollte es gelingen, 100.000 Langzeitkranke wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, dann könnte dies Entlastungen in einer Größenordnung von 1,9 Milliarden Euro nach sich ziehen, hoffen die Vertreter der Arizona-Koalition.

Bei Besuchen beim Hausarzt könnte die bisher fällige Eigenbeteiligung von derzeit vier auf einen bisher noch nicht festgesetzten Betrag ansteigen. Dies, aber auch Änderungen bei der Erstattung von Leistungen und Medikamenten, bedarf noch der Klärung. Die flämischen Sozialisten konnten jedoch erreichen, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten bei der Berechnung der Renten berücksichtigt werden.

Höhere Besteuerung von Wertpapieren und Kampf gegen Steuerhinterziehung

Außerdem sollen – ebenfalls nicht zuletzt auf Drängen von Vooruit – Besitzer von Wertpapieren im Umfang von mehr als einer Milliarde Euro darauf nicht mehr 0,15, sondern 0,3 Prozent an Steuern abführen. Das könnte knapp eine Milliarde Euro an zusätzlichen Einnahmen ermöglichen. Gemeinsam mit einer neuen Bankensteuer und dem verstärkten Kampf gegen Steuerhinterziehung und Betrug bei Sozialleistungen erhoffen sich De Wever und sein Mitstreiter Mehreinnahmen in einer Größenordnung von zwei Milliarden Euro. Die von MR-Chef abgelehnte „Reichensteuer“ ist dagegen vom Tisch.

Ob mit dem Kompromiss der Regierungsspitze zu hohe Erwartungen geweckt werden, muss sich noch erweisen. Keineswegs ausgeschlossen wurde am Montag von Regierungsvertretern, dass es in den kommenden Jahren zu weiteren Sparbeschlüssen kommen müsse. Die angekündigte Verringerung der Einkommenssteuer soll erst 2030, ein Jahr später als geplant, umfassend greifen; allerdings soll schon 2027 in einem ersten Schritt die Steuer auf den Mindestlohn sinken.

Anpassungen des „Index-Systems“

Das außer in Belgien in der EU nur in Luxemburg praktizierte „Index-System“ soll in den Jahren 2026 und 2028 nur eingeschränkt zur Anwendung kommen. Bei Einkommen bis 4000 Euro brutto – das entspricht ungefähr dem durchschnittlichen Einkommen – bleibt es bei der Indexierung wie bisher, für Einkünfte darüber hinaus gibt es keine Anpassung. Das gleiche gilt für Sozialleistungen (zu denen auch die Pensionen gehören), für die diese “Grenze” bei 2000 Euro liegt.

Foto: Hanna Penzer

Die Forderungen der Gewerkschaften

Anpassungen am „Index-System” sind einer der Hauptgründe der Gewerkschaften für die jetzigen drei Streiktage. An erster Stelle steht aber die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre mit entsprechenden Malus- und Bonusregelungen bei früherem oder späterem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Wer mit 62 in den Ruhestand gehe und bisher eine Monatsrente von 2000 Euro habe erwarten können, dem drohten jetzt Einbußen von jeweils 500 Euro, führt die sozialistische Gewerkschaft FGTB/ABVV an.

Der zuständige Minister Jan Jambon hat zwar erklärt, dass die Änderungen nicht fristgerecht im neuen Jahr in Kraft treten könnten. Den Ärger der Gewerkschaften hat er damit jedoch nicht zerstreut. Für viel Unmut sorgt auch die ebenfalls als Streikmotiv angeführte Neuregelung, wonach in der Logistikbranche und im E-Commerce-Bereich die günstigen Regelungen für Nachtarbeit nur noch zwischen Mitternacht und fünf Uhr statt derzeit zwischen 20 Uhr und sechs Uhr morgens gelten sollen.

Harte Kritik aus den Reihen der Opposition

Die Gewerkschaften haben die Beschlüsse der Arizona-Koalition scharf verurteilt. So heißt es einer Erklärung der sozialistischen FGTB/AVBB: “Die Regierung De Wever hat ihr Haushaltsabkommen erreicht, aber erneut ist deutlich, wer für die Rechnung aufkommen darf: die Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, die Menschen, die krank sind, die Menschen, die körperlich ausgelaugt sind.“

Auch aus den Reihen der Oppositionsparteien hagelte es harsche Kritik. Der Grünen-Fraktionschef Stefaan Van Hecke warf der Regierung in einer Stellungnahme vor, die Lasten einseitig den ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen aufzubürden. „Es scheint für die Arizona-Parteien eine Ehrensache zu sein, Menschen in die Armut zu drücken statt sie dort heraus zu holen“, erklärte Van Hecke.

Der neue Vorsitzende der flämischen Liberalen (Open VLD), Fréderic De Gucht erklärte: “Es ist schon besonders schmerzlich, dass die Anstrengungen zur Hälfte auf Steuererhöhungen für diejenige beruhen, die arbeiten, sparen und unternehmen – statt bei der öffentlichen Hand einzusparen.“

Raoul Hedebouw, Vorsitzender der am linken politischen Rand angesiedelten Partei PTB-PVDA, sprach in sozialen Medien von „Rentendiebstahl“ und „Angriffen auf die Kaufkraft“ durch die Änderungen am „Index-System“ und durch die beschlossenen Mehrwertsteuer- und Abgabenerhöhungen. „Keine der Parteien hatte diese Maßnahmen im Programm, sie haben keine Legitimität, sie wissen das“, schrieb Hedebouw.

Nicht überraschend, aber durchaus bemerkenswert ist die unterschiedliche Bewertung der Beschlüsse durch die sozialistischen Schwesterparteien. Paul Magnette, Vorsitzender der oppositionellen französischsprachigen Sozialisten (PS) prangerte „ungerechte Lösungen“ an, für die immer wieder die Arbeitnehmer und der Mittelstand aufkommen müssten. „Unsere Mobilisierung wird diesen Entscheidungen Rechnung tragen“, kündigte Magnette an, ohne jedoch Einzelheiten zu nennen.

Dagegen verteidigte Conner Rousseau, der Parteichef der zum Regierungslager gehörenden Schwesterpartei Vooruit, die Beschlüsse. Seine Partei habe hart „und mit Ergebnissen“ für Kaufkraft und das Gesundheitswesen gekämpft. „Aber jeder weißt, dass man keinen Haushalt nur mit schönen Nachrichten rettet“, sagte Rousseau im Sender VRT.

Einen anderen Ton schlug MR-Parteichef Bouchez an, der als hauptverantwortlich für die schleppenden Haushaltsverhandlungen der vergangenen Monate gilt. „Gehaltene Versprechen“, schrieb Bouchez auf X und rühmte sich damit, dass es keine Mehrwertsteuererhöhung gebe, das „Index-System“ erhalten und „der Einkaufswagen vollkommen geschützt“ bleibe.

Die Sichtweisen von Bouchez und De Wever

Außerdem lieferte Bouchez, wie auf einem vom flämischen Fernsehsender VRT verbreiteten Ausschnitt ( https://vrtnws.be/p.ewjPElwRj#bGl2ZWJsb2dfaXRlbV8xNzYzOTg0NjA5MTY5) zu sehen ist, vor laufender Kamera eine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage, ob die Einigung an diesem Tag Zufall gewesen sei oder nicht: „Das war gut gespielt – an einem Tag des Streiks“, sagte der MR-Parteichef strahlend. Dagegen beteuerte Regierungschef De Wever vor den Kameras des Senders RTBF: „Sie werden mir nicht glauben, aber ich habe selbst überhaupt nicht an die drei Streiktage gedacht.”

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