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Die Wallonie bekommt eine neue Regierungskoalition “ohne Tabus”

RTBF

Von Reinhard Boest

Fast genau einen Monat nach den Europa-, Föderal- und Regionalwahlen in Belgien stehen zwei weitere neue Regierungskoalitionen (von insgesamt sechs). Traditionell war die Deutschsprachige Gemeinschaft am schnellsten: Schon am 14. Juni, fünf Tage nach der Wahl, konnte Ministerpräsident Oliver Paasch eine neu formierten Koalition aus seiner regionalistischen Partei ProDG mit den Liberalen (PFF) sowie anstelle der Sozialdemokraten (SP) den Christdemokraten (CSP) bilden. Am 2. Juli wurde der 52 Jahre alte Politiker ein weiteres Mal von König Philippe vereidigt.

Am 11. Juli – dem flämischen Feiertag! – verkündeten die Vorsitzenden der französischsprachigen Liberalen (MR) und der sich politisch in der Mitte verortenden Partei “Les Engagés” (LE, die frühere cdH), George-Louis Bouchez und Maxime Prévot, eine Einigung über Regierungsprogramme für die Wallonische Region und für die “Fédération Wallonie-Bruxelles” FWB). Die FWB ist insbesondere für das französischsprachige Erziehungswesen und die Kultur in der Wallonie und der Region Brüssel-Hauptstadt zuständig. Nach dem unerwartet deutlichen Wahlsieg der beiden Parteien zeichnete sich dieses Bündnis früh ab. Wie inzwischen in der belgischen Politik üblich, musste der neuen Konstellation natürlich eine Farbe zugeordnet werden: die Wahl fiel auf „Azur“ – wahrscheinlich eine Mischung aus dem Blau der MR und dem Türkis, für das sich Les Engagés entschieden haben (statt des Orange der cdH, aus der sie 2022 hervorgegangen sind).

Im 75 Mitglieder umfassenden Parlament der Wallonie in der wallonischen Hauptstadt Namur verfügen die beiden Partner jetzt über 43 Sitze (statt 30 in der vergangenen Wahlperiode). Das Parlament der FWB besteht aus den 75 Mitgliedern des Parlaments der Wallonie und 19 französischsprachigen Vertretern des Parlaments der Region Brüssel-Hauptstadt; hier haben MR und LE künftig eine Mehrheit von 50 von 94 Sitzen.

Den beiden Parteivorsitzenden war der Stolz über die rasche Einigung ebenso anzumerken wie die Entschlossenheit, nach der jahrzehntelangen Vorherrschaft der Sozialistischen Partei (PS) jetzt alles anders zu machen. Dabei soll es „keine Tabus“ geben, und die gegenseitigen Blockaden innerhalb der früheren Koalitionsregierungen sollen in der neuen Regierung der rechten Mitte endlich überwunden werden. Sowohl MR als auch LE (in Gestalt der früheren Zentrumshumanisten des cdH) waren lange Jahre als Koalitionspartner der PS an der Regierung. Zwischen Juli 2017 und September 2019 gab es schon einmal eine Regierung MR/cdH unter Willy Borsus (MR), die aber durch den Austritt einer cdH-Abgeordneten ihre Mehrheit verlor. Bouchez und Prévot wollen jetzt fortsetzen, „was wir damals nicht vollenden konnten.“ Während Prévots Partei 2019 auf die Oppositionsbänke wechselte, regierten die Liberalen und die Grünen (Ecolo) bis zur jüngsten Wahl als Juniorpartner der Sozialisten in Namur mit.

Auch in Flandern gab es teilweise geradezu enthusiastische Reaktionen, von einem „Ende des PS-Staats“, einer Kulturwende und einem „Geschenk an Flandern“ war die Rede, da sich die Wallonie den Erfolgsrezepten Flanderns nicht länger verschließe (was auch die innerbelgischen Spannungen abbauen könne). Sowohl Bouchez als auch Prévot sahen sich inzwischen veranlasst zu betonen, dass von „Austerität“ – rigoroser Sparpolitik – nicht die Rede sein könne und man die Wallonie nicht „brutalisieren“, sondern modernisieren wolle.

Was hat die neue Mehrheit konkret vor? Darüber sollten die umfangreichen Regierungsprogramme (je rund 100 Seiten) für die Region und die Föderation Wallonie-Brüssel Aufschluss geben.

Ausgangspunkt ist die prekäre Haushaltslage, mit der nicht nur der Föderalstaat, sondern natürlich auch die Regionen konfrontiert sind. Der Haushalt der Wallonie für das laufende Jahr weist bei einem Volumen von 21,1 Milliarden Euro ein Defizit von knapp 3 Milliarden Euro aus – immerhin mit abnehmender Tendenz gegenüber dem Vorjahr. Der Schuldenstand beträgt derzeit 37,5 Milliarden Euro, gegenüber nur 10 Milliarden Euro um die Jahrtausendwende. MR und LE haben sich zum Ziel gesetzt, das Defizit bis zum Ende der Legislaturperiode zu halbieren und nach weiteren fünf Jahren ohne neue Schulden auszukommen. Der Schuldenstand wird also bis dahin zunächst weiter steigen. Das Programm enthält aber keine bezifferten Aussagen darüber, wo und wie man derart große Summen einsparen oder aufbringen will. Steuererhöhungen soll es ausdrücklich nicht geben. Die vorgesehenen Einsparungen im Regierungs- und Verwaltungsapparat reichen aber mit Sicherheit nicht aus. Die Zahl der Minister soll von 13 (Region und FWB) auf 10 sinken; außerdem könnten die Mitarbeiterstäbe (Kabinette) verkleinert werden. Angestrebt wird auch eine Reduzierung der Mitgliederzahl des Wallonischen Parlaments.

Die über gewisse Zuständigkeiten, zum Beispiel in der Familien-, Bildungs-, Gesundheits-, Kultur- oder auch der Fremdenverkehrspolitik, verfügenden Provinzialräte sollen abgeschafft und durch ein Gremium von Bürgermeistern ersetzt werden. Abgesehen davon, dass die Region das wohl nicht allein entscheiden kann, werden die Provinzialräte im Oktober zusammen mit den Kommunalparlamenten erst einmal für sechs Jahre neu gewählt, so dass sich ein Einspareffekt erst danach ergäbe. Die Provinzen selbst – ein Relikt der Departements aus der Zeit der napoleonischen Besatzung – werden nicht in Frage gestellt, obwohl wahrscheinlich kaum jemand weiß, wofür sie zuständig sind und ob man sie wirklich braucht.

Trotz der Haushaltslage ist sich die neue Mehrheit bewusst, dass es Impulse braucht, um die Wirtschaft anzukurbeln. Konkrete Entlastungen sind aber im Programm nur bei der Grunderwerbsteuer (3 statt bisher 12,5 Prozent) und der Erbschaftssteuer vorgesehen, die dann deutlich unter dem Niveau in den anderen Regionen liegen würden. Damit soll vor allem jungen Menschen der Immobilienerwerb erleichtert werden, und Eltern sollen ihre „Lebensleistung“ an ihre Kinder weitergeben können und nicht an den Staat. Die damit verbunden Steuerausfälle werden auf etwa 1,5 Milliarden Euro veranschlagt.

Einen Schwerpunkt setzt die neue Regierung auf eine deutliche Erhöhung der Beschäftigungsquote; Ziel sind 80 Prozent. Dazu sollen Erwerbslose stärker betreut werden, wobei nicht nur Hilfe angeboten, sondern wohl auch der Druck erhöht werden soll. Für die – vom MR seit längerem geforderte – Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds setzt die Koalition darauf, dass auf der – dafür zuständigen – föderalen Ebene künftig eine politisch ähnliche Mehrheit das Sagen hat. Zuletzt betrug die Beschäftigungsquote bei den 20- bis 64-Jährigen nach Angaben des Statistikamts Statbel in der Wallonie 66,2 Prozent, in der Hauptstadtregion Brüssel 63,3 Prozent, in Flandern 76,7 Prozent sowie im belgischen Landesdurchschnitt 71.9 Prozent.

Auch in der Energiepolitik werden deutliche Signale an die künftige Föderalregierung gesendet: für eine Fortsetzung und einen Ausbau der Nutzung der Atomenergie. Bei den erneuerbaren Energien will man stärker auf Marktkräfte, die Beteiligung der Betroffenen (Anwohner, Gemeinden) sowie auf Wissenschaft und Innovation setzen. Die Subventionierung soll auf mittlere Sicht auslaufen. Die Aussagen zum Klimawandel sind eher vage; bei Anpassungsmaßnahmen setzt man auf “Realismus und Augenmaß” statt “Dogmatismus”.

Im Kapitel zur Mobilität wird ein weiterer Ausbau der Straßenbahn in Lüttich (nach Herstal und Seraing) wegen der hohen Kosten in Frage gestellt. Dagegen sollen die beiden Flughäfen der Region (Charleroi und Lüttich) sowie die Formel 1-Strecke von Spa-Francorchamps weiter unterstützt werden. Zur Finanzierung des Straßenbaus will die Region eine Straßenbenutzungsgebühr einführen, die alle Nutzer zahlen sollen. Autofahrern aus der Wallonie soll das auf die Kraftfahrzeugsteuer angerechnet werden. Es darf bezweifelt werden, dass dieses Modell, mit dem bereits ein deutscher Verkehrsminister am Europarecht gescheitert ist, in Belgien funktioniert. Für einigen Wirbel sorgt die Absicht der neuen Koalition in Namur, die Benutzung von Smartphones in Grundschulen zu verbieten. Nicht einigen konnten sich MR und Les Engagés auf eine – längst überfällige – Regelung zum Dosenpfand

Im Programm für die FWB sind vor allem die geplanten Änderungen im Schulbereich von Bedeutung. Sie hätten ein zumindest teilweises Abgehen von Reformvorhaben zur Folge, die vor einigen Jahren – mit Beteiligung des MR – auf den Weg gebracht und noch nicht vollständig umgesetzt worden sind. Dabei geht unter anderem es um Leistungsprüfungen beim Übergang von der Primär- zur Sekundarstufe und um die Dauer des gemeinsamen Lernens (bisher einschließlich des sechsten Jahres der Sekundarstufe). Im letzten Jahr soll dies teilweise aufgegeben werden. Zu Auseinandersetzungen mit den Lehrern wird sicher der Plan führen, die Verbeamtung von Lehrern („statutarisation“) abzuschaffen und künftig nur noch – unbefristete – Angestelltenverträge anzubieten. Bisherige automatische Höherstufungen sollen künftig an eine höhere Wochenstundenzahl oder die Übernahme zusätzlicher Aufgaben geknüpft sein.

Wer Mitglied der neuen Regierungen werden soll, werden die beteiligten Parteien noch an diesem Wochenende entscheiden. Schon am kommenden Montag soll die Regionalregierung vor dem Parlament in Namur vereidigt werden, am Freitag dann die Regierung der FWB in Brüssel. Ob insbesondere MR-Parteichef George-Louis Bouchez sich in die Regierungsverantwortung begeben oder lieber wie bisher das Geschehen von der Seitenauslinie kommentiert, bleibt eine spannende Frage. Und auch, was die neue Ausrichtung auf das Zusammenwirken im Föderalstaat Belgien bedeutet – wie auch immer die Föderalregierung sowie die flämische und Brüsseler Regierung aussehen werden.

Während die Koalitionspartner in Namur durchaus mehr regionale Eigenverantwortlichkeit anstreben und damit auf das Wohlwollen der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) und ihres mit der Bildung der Föderalregierung betrauten Parteivorsitzenden Bart De Wever rechnen können, lehnen MR und „Les Engagés“ die unter das Stichwort „Konföderalismus“ gefassten Bestrebungen zu einem weiteren umfangreichen staatlichen Umbau Belgiens ab. LE-Parteichef Maxime Prévot erklärte dazu am Wochenende im Gespräch mit der flämischen Zeitung „De Standaard“: „Dass die N-VA dafür plädiert, ist keine Überraschung. Aber sie haben keine absolute Mehrheit. Und rund um den Tisch sitzen Parteien, darunter meine, die njet zum Konföderalismus sagen. Ich lege kein Veto gegen bestimmte Personen ein, aber sehr wohl gegen einige Ideen. Und diese ist so eine.“

Schon sehr bald muss die Wallonie aber mehr als bisher Farbe über die konkrete Haushaltspolitik bekennen: Belgien hat nur bis zum September Zeit, sich in dem von der EU-Kommission eingeleiteten Defizitverfahren zu äußern; und dazu gehört auch die Position der Regionen.

Regierungsprogramm für die Region: https://www.mr.be/wp-content/uploads/2024/07/DPR2024-2029.pdf

Regierungsprogramm FWB: https://www.mr.be/wp-content/uploads/2024/07/DPC.pdf

 

 

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