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Gespräch zu den belgischen Parlamentswahlen am 9. Juni mit Pascal Delwit, Politikwissenschaftler an der Université Libre de Bruxelles (ULB) und dem dort ansässigen Centre d´étude pour la vie politique (CEVIPOL).
Wir stehen wenige Wochen vor den Wahlen am 9. Juni. Die Ergebnisse der jüngsten Meinungsumfragen zeichnen sich durch eine gewisse Stabilität aus. Könnte es noch größere Verschiebungen geben?
Wir sehen, dass ein Teil der Wählerschaft sich später entscheidet als früher. Es ist jedoch Vorsicht beim Versuch geboten, die Umfragen auf das tatsächliche Ergebnis zu extrapolieren. Seit über einem Jahr steht der Vlaams Belang sehr gut da, während sich die flämischen Liberalen und die flämischen Grünen nicht in guter Verfassung befinden. Ich denke jedoch, dass es noch Bewegung geben kann. Schon im Wahlkampf im Jahr 2019 kam den sozialen Netzwerken eine gewisse Bedeutung zu. Überall kann man sich Gehör verschaffen, wird gefilmt. Ein falsches Wort kann sofort den Wahlkampf beeinträchtigen.
Im Alltag ist der Wahlkampf kaum zu sehen. Es ist gibt keine Stände der Parteien, keine großen Veranstaltungen. Man sieht Plakate mit Köpfen und Namen, aber kaum programmatische Aussagen.
Im Zweifelsfall wird ein Reisender, der in Brüssel eintrifft, nicht feststellen, dass es einen Wahlkampf gibt. Die Kandidaten sind vor Ort unterwegs, oft auf Märkten. Aber es gibt nur sehr wenige Wahlveranstaltungen. Sie haben in Belgien schon lange keine Tradition mehr. Es handelt sich also um einen abgekapselten Wahlkampf.
Der flämische Privatfernsehsender VTM hat sieben politische Schwergewichte in ein als idyllisch bezeichnetes Schloss in den Ardennen eingeladen. Was halten Sie davon?
Die französischsprachigen Medien verfahren weiter sehr herkömmlich mit Debatten rund um einen Tisch im Studio, mit oder ohne Publikum. Auf niederländischsprachiger Seite gibt es dagegen Bestrebungen, mehr interaktiv vorzugehen und ein Ereignis zu schaffen. 2019 hatte der Sender VRT dafür gesorgt, indem er eine Debatte ausschließlich mit Kindern veranstaltete. Darüber lässt sich natürlich streiten. Aber VTM folgt diesem Ansatz. Heute würde man in Flandern aus der Reihe tanzen, lehnte man eine solche Einladung ab. Es gibt diese Vorstellung, ein Spektakel aufzuziehen und die Gemüter zu beeindrucken.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Im Vergleich zu 2019 gibt es einen großen Trend dahin. Alle Parteien konnten sehen, dass sich der Wahlkampf von Vlaams Belang und PTB ausgezahlt hat, und dass man, will man die 18- bis 39-Jährigen erreichen, in die sozialen Netzwerke gehen muss. Heute kommunizieren alle Kandidaten mit einer gewissen Statur viel persönlich, insbesondere auf Facebook. Videobotschaften und Promicharaktere haben ein unglaubliches Ausmaß angenommen. Es geht um einen Prozess, den ich als Entpolitisierung einstufe.
Warum?
Es gibt eine Fülle von Videos, Nachrichten auf Tiktok oder Instagram. Wissen Sie nicht den Namen der Partei, dann wissen sie nicht, ob es sich um eine links- oder rechtsgerichtete Person handelt. Im Klartext geht es um Botschaften, die Stimmungen erzeugen sollen. Außerdem beobachten wir, insbesondere auf WhatsApp, negativ ausgerichtete Kampagnen – kein ganz neues Phänomen, aber es ist wichtiger geworden und schwerer zu erkennen.
Sind Vlaams Belang, PTB und, in geringerem Maße, die N-VA, die konservativen flämischen Nationalisten, weiterhin vorherrschend in den sozialen Medien?
Vlaams Belang und PTB sind zweifellos mit einer integrierten Herangehensweise bei der Kommunikation in den sozialen Netzwerken am weitesten vorangekommen. Heute ist es ein weitverbreitetes Phänomen. Es gibt noch einige Parteien, die weniger stark darin sind, aber alle haben sich darauf eingelassen.
Die Umfragen zeigen eine Erstarkung der politischen Ränder, mit dem Vlaams Belang in Flandern und im Süden des Landes, auf der linken Seite, der PTB.
Derzeit verfügen beide Parteien zusammen über 30 von 150 Sitzen in der Abgeordnetenkammer. Nun werden ihnen, je nach Umfrage, zwischen 42 und 45 Sitze zugetraut. Für die Regierungsbildung sind daher mehr Partner denn je erforderlich – mit vielen Schwierigkeiten.
In Flandern gibt es Forderungen nach einer weiteren Staatsreform.
Wenn Sie das wollen, müssen Sie die Verfassung ändern oder sogenannte Sondergesetze beschließen. Das bedeutet mindestens zwei Drittel der Abgeordneten. Wenn 42, 45 Sitze blockiert sind, dann sind die Stimmen aller anderen erforderlich. Jede Partei verfügt daher mit Blick auf den Inhalt über ein beträchtliches Erpresssungspotential.
Zunächst geht es ja um die Regierungsmehrheit von 76 Sitzen. N-VA-Parteichef Bart De Wever beschwört die Gefahr einer Neuauflage der Vivaldi-Koalition. Geht De Wever, der damit offenbar Wähler des Vlaams Belang zurücklocken will, da nicht ein Risiko ein?
De Wever steckt in einer Sackgasse. Im Falle eines Abkommens mit dem Vlaams Belang wäre die N-VA in der föderalen Regierung undenkbar. Aber gleichzeitig wünscht ein Teil der N-VA-Wähler dieses Abkommen. Mal sagt De Wever: nein, nein, wie zuletzt am 24. Mai, der Vlaams Belang kommt gar nicht in Frage, und mal sagt er: wenn er sich weiterentwickelt, warum nicht?
Warum steckt De Wever in einer Sackgasse?
Es gibt keine Einigkeit in seiner Wählerschaft, und er selbst besitzt nicht mehr die Kraft, gegebenenfalls eine Vision durchzusetzen. 2014 hat die N-VA 32 Prozent in Flandern geholt. Seither hat sie die Wahlen 2019 verloren. In den Umfragen steht sie nun noch deutlich schlechter da und ist zweite Kraft hinter dem Vlaams Belang. De Wever kommt nicht voran. Er befindet sich auf einer Gratwanderung. Er wird versuchen, nach keiner Seite abzustürzen. Ich denke, er hat einen Fehler begangen, als er sich mit den Themen Migration und Woke auf das Terrain des Vlaams Belang begeben hat. Damit legitimiert er den Vlaams Belang.
Kann De Wever dennoch hoffen, einen Teil der zum Vlaams Belang abgewanderten Wähler zurückzuholen?
Dieser Zeitpunkt ist vorbei. Heute ist die N-VA die Partei des Establishments, aber sie führt einen Anti-Establishment-Wahlkampf. Wenn Sie in Flandern zwei Legislaturperioden lang an der Macht und von 2014 bis 2018 mit den Ministerien für Inneres, Haushalt und Verteidigung föderal an der Regierung beteiligt waren, dann können Sie keine Wahlkämpfe mehr wie zuvor führen. Ich bin stets vorsichtig, denn die Ergebnisse einer Wahl sind eine komplexe Alchemie. Aber ich sehe nicht, wie De Wever mit seiner Strategie die Arithmetik der Wahl einschneidend verändern kann.
Er empfiehlt eine Regierung mit beschränkten Befugnissen und mit der PS, den französischsprachigen Sozialisten, als Partner, um den Boden für eine Staatsreform zu bereiten.
Selbst wenn man Vooruit, die flämischen Sozialisten, hinzunähme, wäre man noch weit von der parlamentarischen Mehrheit von 76 Sitzen entfernt. Und dann stellt sich die Frage: Welches Programm? Für die N-VA ist die PS der Feind. Ich bin mir nicht sicher, was De Wever versucht. In Belgien gibt es einen Wahlkampf im niederländischsprachigen Spektrum und einen im französischsprachigen Spektrum. Und da ist es natürlich viel einfacher zu sagen, dass ein Akteur des anderen sprachlichen Spektrums die Schuld trägt.
Wie gelangt man an die 76 Sitze? Mit einer Vivaldi 2-Koalition aus acht statt derzeit sieben Parteien?
Es gibt zwei Szenarien: ein Vivaldi 2-Szenario mit Les Engagés, der französischsprachigen Schwesterpartei der christlich-demokratischen CD&V – aber möglicherweise ohne die Grünen. Aber ich glaube dafür nicht an eine Mehrheit. Das andere Szenario ist eine klassische Mehrheit aus Sozialisten, Liberalen und Christlichen Demokraten sowie der N-VA.
Mit einer stärkeren Betonung auf dem Spannungsverhältnis der Sprachgemeinschaften?
Und weiter nach rechts gerichtet. Aber all das hängt vom Wahlergebnis ab.
Anders als in Flandern gibt es laut Umfragen in Wallonien keinen Höhenflug extrem rechter Parteien.
In Flandern besteht, was wir einen geschlossenen Nationalismus nennen – also ethnozentrisch. In Wallonien gibt es das nicht. Sie haben vielleicht eine Zuneigung zur Region, aber Sie werden nur wenige Wallonen finden, die sagen: wir sind besser als die anderen.
Was ist noch besonders an der politischen Landschaft Walloniens?
Es gibt die – sozialistischen und christlich-sozialen – Rahmenbedingungen: Gewerkschaften und Krankenkassen spielen eine wichtigere Rolle. Darüber hinaus ist eine Stimme für die radikale Rechte vor allem ein Phänomen der Peripherie – also weniger verbreitet in den Städten. Auf französischsprachiger Seite herrscht ein städtischerer Geist vor, da die Urbanisierung schon früh begonnen hat – mit dem Bergbau, der Stahl-, der metallverarbeitenden, der Chemie- und der Textilindustrie. Flandern ist ländlicher geprägt. Man ist daher dort zurückhaltender gegenüber Neuerungen, insbesondere neu ankommenden Menschen, anderen Religionen, anderen Hautfarben und anderen Sprachen.
Mit welchen Folgen?
Es gibt in den Medien keinen Cordon sanitaire.
Also keinen Sperrgürtel gegenüber rechts.
Den gibt es auf französischsprachiger Seite nicht. Der MR bedient sich einer rechten Ausdrucksweise. Aber Sie werden nicht in allen Debatten jemanden finden, der Ihnen erklärt, dass alles, was falsch läuft, am Islam, den Migranten oder den Französischsprachigen und an was sonst noch auch immer liegt.
Zieht die PTB eine Wählerschaft an, die eher für die extreme Rechte stimmt?
Das ist eine komplexe Frage. 2019 haben wir gesehen, dass die PTB zwei Wählergruppen für sich gewonnen hat: eine klassische linke Wählerschaft aus unteren Schichten, die zuvor sozialistisch gestimmt hat, sowie eine schwebende Wählerschaft, aus deren Lager einige wahrscheinlich für die extreme Rechte stimmen. Daher wollte die PTB versuchen, in Flandern Wähler des Vlaams Belang zu erreichen. Sie haben sich 2021 organisatorisch neu aufgestellt. Raoul Hedebouw wurde Parteichef. Er ist in den flämischen Medien sehr präsent.
Dennoch scheint die PTB oder PVDA, wie sie in Flandern heißt, den Vlaams Belang in Meinungsumfragen nicht zu schwächen.
Wir wissen nicht, woher diese Wähler kommen. Wir stellen bei den Umfragen sowohl einen Anstieg für den Vlaams Belang als auch für die PVDA fest. Unsere – noch zu überprüfende – Hypothese lautet, dass es möglicherweise eine Bewegung der Grünen, denen es in Flandern schlecht geht, hin zu den Sozialisten, von den Sozialisten hin zur PVDA, von einem Teil der Wähler des Vlaams Belang zur PVDA sowie von einem Teil der N-VA-Wähler hin zum Vlaams Belang gibt. Ich bin vorsichtig. Aber offenbar ist es der PVDA nicht gelungen, die Dynamik zugunsten des Vlaams Belang zu brechen.
In der politischen Mitte und rechts davon erleben wir eine Annäherung zwischen der flämischen CD&V und dem MR. Ihre Vorsitzenden, Sammy Mahdi und Georges-Louis Bouchez, sagen, dass sie eng zusammenarbeiten wollen. Ist das mehr als nur Wahlkampfgetöse?
Beide haben den Ehrgeiz, sich zu zeigen. Die CD&V will zeigen, dass es sich um eine Mitte-Rechts-Partei handelt, auf die es ankommt. Bouchez wollte zeigen, dass der MR nicht isoliert ist. Der Punkt ist jedoch, dass Les Engagés sich nicht wirklich daran gebunden fühlt, Open VLD, die flämischen Liberalen von Premierminister Alexander De Croo, auch nicht. Das wird also, selbst wenn man alle vier Parteien nimmt, nicht ausreichen.
Wie erklären Sie den Aufstieg von Les Engagés in den Umfragen in Wallonien?
Auch da muss man vorsichtig sein. Der Trend beruht nur auf zwei Umfragen. Bouchez hat den MR zumindest rhetorisch nach rechts geführt. Ich denke, so hat er in der Mitte Platz geschaffen. Im Mitte-Rechts-Lager wartet Les Engagés mit dem besten Angebot auf. Die Partei, einstmals als CDH bekannt, hat sich umbenannt und neue Persönlichkeiten, wie auch der MR, zum Beispiel aus den Medien bei sich aufgenommen.
Haben Sie eine Prognose, wie lange sich die Bildung einer neuen Regierung dieses Mal hinziehen könnte?
Ich habe keine Prognose. Es hängt von den Ergebnissen ab. Und zweitens wird es auch von der Vorstellungskraft auf Grundlage der Ergebnisse abhängen. Wir bauen die Dinge um diese Idee herum auf. Auch wenn die Wahl letztlich zu keinem ganz anderen Ergebnis führen sollte, kann sich die Vorstellung ändern. Und dann kann dies manchmal die Regierungsbildung beschleunigen oder auch verzögern. Nun, ich rechne damit, dass es lange dauern wird.
Die Fragen stellte Michael Stabenow
Das Interview im französischsprachigen Original finden Sie hier: Delwit FR
Siehe auch:
„Es gibt keine Mehrheit für die Spaltung Belgiens und keine Zweidrittelmehrheit für eine Staatsreform“
Gespräch mit dem Staatsrechtler Christian Behrendt. Geboren wurde er 1974 in Bonn, aber seit fast drei Jahrzehnten lebt er in Belgien. Behrendt wurde 2008 Lehrstuhlinhaber an der Universität Lüttich (ULg), lehrt aber auch an der Katholischen Universität Löwen (KUL). Der Jurist hat sich auch als Berater des über die Einhaltung des Rechts wachenden Belgischen Staatsrats einen Namen gemacht und ist seit 2023 deutscher Honorarkonsul in Lüttich.
“Die Chancen stehen gut für eine Vivaldi-2-Regieurng, aber dann eine mit der N-VA”
Ein Gespräch mit Dave Sinardet. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Brüssel (VUB), wo er Themen wie „Demokratie und Nationalismus“ und „Belgischer Föderalismus“ lehrt. Er ist auch Professor an der UCLouvain Saint-Louis – Bruxelles, wo er auf Niederländisch unterrichtet. Zu Sinardets Forschungsschwerpunkten gehören Staatsreform, Nationalismus und mehrsprachige Demokratie. Er hat bereits zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zu diesen Themen veröffentlicht. In seiner Dissertation (Universität Antwerpen, 2007) befasste er sich mit der Rolle der Medien in Bezug auf die „communautairen“ Probleme – das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen – der belgischen Gesellschaft. Darüber hinaus ist Dave Sinardet Kolumnist. Seit 2007 veröffentlicht er regelmäßig Kolumnen in belgischen Qualitätszeitungen, derzeit in De Morgen. Er ist einer der wenigen Intellektuellen, die in der öffentlichen Debatte auf beiden Seiten der belgischen Sprachgrenze aktiv sind, mit Vorträgen, Debatten und Medienauftritten. Sinardet wird auch häufig von internationalen Medien als Experte befragt.
Beiträge und Meinungen