
Von Reinhard Boest
541 Tage ohne Regierung! So lange hat bisher noch keine Regierungsbildung in Belgien gedauert – und wahrscheinlich auch sonstwo nicht. Die Region Brüssel-Hauptstadt wird seit Juni 2024 – dem Datum der vergangenen Wahl – von einer geschäftsführenden Regierung nur noch verwaltet. Politische Entscheidungen von Bedeutung sind nicht mehr möglich.
Der bisherige Rekord aus dem Dezember 2011, als die föderale Regierung von Elio Di Rupo nach 540 Tage dauernden Verhandlungen ins Amt kam (die Wahl fand im Juni 2010 statt), ist jetzt also Geschichte. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass die neue “Benchmark” noch einmal deutlich höher liegen wird.
Es geht hier aber nicht um einen Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde, sondern um eher um eine Tragödie. Das Fehlen einer voll handlungsfähigen Regierung wirkt sich immer dramatischer im täglichen Leben der über 1,2 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Brüssels aus. Es gibt nämlich auch keinen Haushalt der Region. Darunter leiden zunehmend alle diejenigen, die auf Zuwendungen der Region angewiesen sind. Das sind Unternehmen, aber auch private Haushalte, Vereine, Kultureinrichtungen, Sport- und Jugendverbände und viele mehr.
Von großen Projekten, zu denen nicht nur Investitionen in eine neue Metrolinie gehören, redet man schon lieber gar nicht mehr. Auch die Verbesserung der Sicherheitslage in Brüssel erfordert eine handlungsfähige Regierung, die sich etwa um die von der Föderalregierung auf den Weg gebrachte Polizeireform kümmern muss. Und schließlich haben bisher weder ein wegen der knappen Kassen drohender “Shutdown” noch die Herabstufung durch eine Ratingagentur die Streithähne zusammengezwungen.
Der Aufschrei zu diesem “Jubiläum” war praktisch unisono. Schon seit einiger Zeit melden sich Akteure aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft zu Wort und schließen sich zu Bündnissen zusammen. Am Montag versammelten sich mehrere hundert zu einer Demonstration vor dem Parlament. Ein Blick in die Presse am Dienstag zeigte eine seltene Einmütigkeit: die handelnden Politiker in Brüssel setzten nicht nur die Region und ihre Eigenständigkeit aufs Spiel, sondern auch die zerbrechlichen Strukturen des ganzen Landes. So zerstörten sie das letzte Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik und ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Nun ist diese Kritik nicht neu, sie begleitet den Verhandlungsprozess schon sehr lange (Belgieninfo hat regelmäßig darüber berichtet). Schon zu Beginn war klar, dass es angesichts des Wahlergebnisses, der (weiteren) Zersplitterung der politischen Landschaft und der bekannten Animositäten der handelnden Personen untereinander diesmal besonders schwierig werden würde. Geht es doch in Brüssel nicht nur um einen Konflikt zwischen (politisch) Links und Rechts, sondern auch um das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen und nicht zuletzt zur Föderalregierung. Erschwerend kommt hinzu, dass die belgische Verfassung und das für die Region Brüssel-Hauptstadt geltende besondere Statut noch einmal zusätzliche Hürden aufbauen. Dies gilt nicht zuletzt für die Regelungen über die Struktur der Regierung und die Mehrheitserfordernisse in den beiden Teilen des Parlaments: der frankophonen und der niederländischsprachigen Gruppe der Abgeordneten. Und Neuwahlen zur Auflösung der Blockade lässt die Rechtslage nicht zu.
Die Interessen der wichtigsten handelnden Personen sind offenbar weiter nicht auf einen Nenner zu bringen. Zu nennen sind insbesondere die Wortführer der beiden größten Gruppierungen Fraktionen auf der frankophonen Seite: Parteichef Georges-Louis Bouchez für die Liberalen (MR) und Ahmed Laaouej, der Vorsitzende der Sozialisten (PS) in Brüssel.
Als Wahlsieger (mit 20 Sitzen von 89) hatte der MR den ersten Zugriff auf das Amt des Ministerpräsidenten der Region und damit auf die Nachfolge des weiter geschäftsführend amtierenden PS-Politikers Rudi Vervoort. Dem liberalen Spitzenkandidaten David Leisterh, Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Watermael-Boisfort, gelang es allerdings trotz mehrerer Anläufe nicht, eine Koalition zu schmieden. Ende Oktober gab er auf, und sein Parteichef Bouchez übernahm, obwohl er politisch nicht in Brüssel zu Hause ist und daher auch nicht Ministerpräsident werden kann (https://belgieninfo.net/in-bruessel-alles-wieder-auf-null/).
Allerdings hatte Bouchez erkennbar schon zu Zeiten des Verhandlungsführers Leisterh die Strippen gezogen. Das Ziel des MR-Chefs ist eine “rechte” Regierung für Brüssel, wie er sie nach den Wahlen im Juni 2024 schon in der Wallonie und in der – für die frankophone Bildungs- und Kulturpolitik zuständigen – Föderation Wallonie-Brüssel hinbekommen hatte (allerdings mit deutlich klareren Wahlergebnissen). Dazu setzt er auch auf eine Einbeziehung der flämischen Nationalisten der N-VA (mit denen er die sozio-ökonomischen Positionen teilt) in die regionale Mehrheit. Außerdem brauche man die N-VA als Partei des Premierministers Bart De Wever für die Kontakte zur Föderalregierung.
Demgegenüber schließt Laaouej eine Zusammenarbeit mit der N-VA kategorisch aus. Dies begründet er nicht nur mit den Unterschieden in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern vor allem mit der ambivalenten Haltung der Partei zur Autonomie Brüssels als eigenständige Region. Gerade hat De Wever, wie die Zeitung “Le Soir” berichtet, bei einem Auftritt bei den “Grandes conférences catholiques” wieder seine Vision einer “Konföderation Belgien” betont – auch wenn dies kein Ziel für morgen sei und es jetzt erst einmal um mutige Wirtschaftsreformen gehe, die mit MR und der Zentrumspartei “Les Engagés” endlich angegangen werden könnten.
Laaouej wird nachgesagt, dass er – obwohl seine Partei die Wahl verloren hat – vielleicht doch gern selbst Ministerpräsident werden möchte. Dafür spräche, dass es im Brüsseler Parlament – anders als in den anderen Regionen und im föderalen Parlament – rechnerisch immer noch eine “linke” Mehrheit gibt. Laaouej musste aber vor einigen Monaten erfahren, dass sich diese Parteien nicht in einer arbeitsfähigen Koalition zusammenbringen lassen.
Die “Mission Bouchez” ist trotz mehrerer Fehlschläge formell noch nicht am Ende. Es ist aber offensichtlich, dass es mit Bouchez und Laaouej eine Koalition zwischen MR und PS nicht geben wird. Vor allem Bouchez scheint mit seiner konfrontativen Art nicht der richtige zu sein, die Streitparteien zusammenzubringen. Und Laaouej ist auch für andere potentielle Koalitionspartner anscheinend ein “rotes Tuch”, vor allem für den Vorsitzenden der flämischen Liberalen in Brüssel, Frédéric De Gucht. Er wirft den Sozialisten vor, eine Art “Sozialleistungs-Junkies” zu sein. Auch sein Beharren darauf, dass die N-VA dabei sein müsse, die flämischen Christdemokraten (CD&V) aber nicht, stand einem Kompromiss bisher im Weg.
Als die “Vernünftigen” in dieser Konstellation gelten vor allem die flämischen Grünen (“Groen”, die bei den niederländischsprachigen Wählern in Brüssel am besten abgeschnitten haben) und “Les Engagés”. Eine von beiden im Februar gemeinsam gestartete Vermittlungsmission scheiterte allerdings an den gleichen Vorbehalten, wie sie vorher bestanden und seither nicht überwunden werden konnten.
Der Vorsitzende der “Engagés”, Yvon Verougstraete, gibt Bouchez jetzt “noch zehn Tage”. Danach kann er sich anscheinend auch eine Koalition ohne MR vorstellen, obwohl beide Parteien in der Föderalregierung und in der Wallonie zusammen regieren. Man könnte sich dann auf der frankophonen Seite eine Koalition von PS und Engagés vorstellen, an der außerdem die Grünen (Ecolo) und die liberale Partei Défi teilnehmen. Beide Parteien gehören der noch amtierenden Regierung an, hatten aber bei der Wahl massiv verloren und wollen eigentlich in die Opposition gehen.
Außerdem hätte eine solche Koalition bei den frankophonen Mitgliedern des Parlaments nur 36 von 72 Sitzen, wäre also auf Unterstützung weiterer Abgeordneter angewiesen – auch aus der niederländischen Sprachgruppe, wo weiterhin eine Mehrheit nicht in Sicht ist. Vielleicht schielt man auf das “Team Fouad Ahidar”, einer Abspaltung der flämischen Sozialisten mit einem auf die muslimischen Wähler zielenden Programm. Dieses errang bei der Wahl überraschend drei Sitze, ist nach aktuellen Umfragen allerdings schon wieder in der Versenkung verschwunden.
Bis Weihnachten sind es noch drei Wochen; aber es sieht, wenn keine Wunder geschehen, nicht danach aus, dass eine Regionalregierung als Geschenk unter dem Tannenbaum liegen wird. Die Brüsseler Zivilgesellschaft meldet sich immer lautstärker zu Wort, aber ihre Politiker scheinen sie nicht zu hören. Niemand weiß genau, welche Ziele die Hauptakteure der Parteien (vor allem Bouchez, Laaouej und De Gucht) verfolgen. Es hat jedenfalls derzeit nicht den Anschein, dass es ihnen vor allem um die Brüsselerinnen und Brüsseler sowie um eine Vision für die Region geht.
Fotos: Hanna Penzer








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