Von Michael Stabenow
Wochenlang schien in Belgien die Regierungsbildung vor sich hin zu plätschern. Zwischen Ostende und Arlon hatte man sich darauf eingerichtet, bis zur nächsten Parlamentswahl im Jahr 2029 von einer fünf Parteien umfassenden „Arizona“-Koalition unter dem flämischen Nationalisten Bart De Wever als Premierminister regiert zu werden.
Dann, Mitte August, gerieten sich die Unterhändler doch in die Haare. De Wever, seit zwei Jahrzehnten Vorsitzender der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) und seit 2012 stolzer Bürgermeister seiner Heimatstadt Antwerpen, fühlte sich bemüßigt, das von seinem Urlaubsort in Frankreich herbei gejettete Staatsoberhaupt König Philippe zu bitten, ihn von seiner Aufgabe als Regierungsbildner („Formateur“) zu entbinden.
Prévot soll bis zum 2. September die Wogen glätten
24 Stunden später hatte der Monarch die Karten neu gemischt: Nach Einzelgesprächen mit den fünf Parteichefs der geplanten Arizona-Koalition betraute er den Vorsitzenden der französischsprachigen Zentrumspartei „Les Engagés“, Maxime Prévot, mit einem Vermittlungsauftrag. In zehn Tagen, am 2. September, soll dieser König Philippe abermals Bericht erstatten.
Der Schachzug des nur über eingeschränkten politischen Spielraum verfügenden Staatsoberhaupts macht nach allgemeiner Einschätzung in Brüssel vor allem eines deutlich: Mögen auch im Arizona-Lager die Fetzen geflogen sein, so dürfte – aus jetziger Warte – kein Weg an der Fünferkoalition aus N-VA, flämischen Sozialisten (Vooruit) und Christdemokraten (CD&V) sowie „Les Engagés“ und den französischsprachigen Liberalen (MR) vorbeiführen. Und dass De Wever ein zweites Mal mit der Regierungsbildung beauftragt wird, gilt keineswegs als ausgeschlossen.
Schwieriger Balanceakt für De Wever
Was aber war passiert? Eigentlich schien alles nach Plan zu laufen. De Wever hatte mit mehreren Kompromisspapieren versucht, eine Balance zwischen eigentlich nur schwer miteinander vereinbarenden wirtschaftspolitischen Positionen zu erreichen. Es galt, Einschnitte vorzunehmen mit dem Ziel, die besorgniserregend aus dem Ruder gelaufenen Staatsfinanzen einigermaßen ins Lot zu bringen. So erwartet die Europäische Kommission bis zum 20. September klare Aussagen darüber, wie in Belgien in den nächsten vier bis sieben Jahren der Haushalt um 28 Milliarden Euro entlastet werden soll.
Der Vooruit-Vorsitzende Conner Rousseau zeigte sich bereit, manche aus sozialistischer Sicht besonders fett erscheinende Kröten zu schlucken. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die Laufzeit des vergleichsweise großzügigen und über schier unendliche Zeiträume gewährten Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre zu begrenzen. Rousseau, den schon seit 2019 ein Vertrauensverhältnis mit De Wever verbindet, hatte jedoch Gegenleistungen gefordert, mit denen Vooruit als einziger linksgerichteter Arizona-Partner in den Augen der Anhänger das Gesicht wahren könnte.
MR-Chef Bouchez blockiert Gewinnsteuer auf Aktienverkäufe
Daher hatte sich die Diskussion auf die Einführung einer Gewinnsteuer von 10 Prozent beim Verkauf von Aktien und Wertpapieren konzentriert, mit denen Haushaltslöcher zum Teil gestopft werden sollten. Diese Rechnung war aber ohne den seit dem Wahlsieg seiner Partei im französischsprachigen Landesteil vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden MR-Chef Georges-Louis Bouchez gemacht.
Scheinbar gelassen hatte der wallonische Liberale über Wochen das Geschehen im Brüsseler Regierungsviertel beobachtet und begleitet. Dann aber legte er sich in der Debatte über die als „Reichensteuer“ bezeichnete Gewinnsteuer quer. In einer Reihe von Gesprächen gelang es De Wever nicht, die Gemüter zu beruhigen – im Gegenteil.
De Wever zog sich, zumindest vorübergehend, zurück – und der König musste zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen aus Frankreich nach Brüssel fliegen. Dass Bouchez, Rousseau und CD&V-Parteichef Sammy Mahdi sich weiter zum Arizona-Bündnis bekannten, Prévot sich dagegen nach Verlassen des Schlosses in Schweigen hüllte, ließ erahnen, was sich kurz darauf ereignen sollte: König Philippe beauftragte Prévot mit der Suche nach Wegen, das zerschlagene Porzellan zu kitten.
Die Arizona-Koalition erscheint weiter als einzige Option
Dass die Arizona-Koalition als einzige Option für eine relativ stabile Regierungsmehrheit gilt – daran hat sich durch die jüngsten Streitereien wenig geändert. Sollten an der Stelle von Vooruit die bei der Wahl im Juni kräftig abgestraften flämischen Liberalen (Open VLD) des noch geschäftsführend amtierenden Premierministers Alexander De Croo rücken, verfügte diese Koalition nur über eine hauchdünne Mehrheit von 76 der 150 Parlamentssitze. Das Arizona-Bündnis, genannt nach der an die Flagge des amerikanischen Bundesstaats erinnernden parteipolitischen Farbkonstellation, käme auf 82 Sitze.
Bouchez, der sich vor allem durch die Kritik von flämischer Seite, aber auch von den lange in Wallonien übermächtigen Sozialisten (PS) in die Rolle des Sündenbocks gedrängt fühlte, reagierte, wie man es von ihm gewohnt ist. Er goss regelrecht noch Öl ins Feuer. Schon kürzlich hatte er offenbar mit der Überlegung, den Diamantenhandel in Antwerpen zur – staatlichen – Kasse zu bitten, dem dortigen Stadtvater De Wever wenig Freude bereitet.
Bouchez wird als Störenfried empfunden
Nun rühmte sich Bouchez öffentlich damit, Mehrwertsteuererhöhungen auf Güter des täglichen Bedarfs wie Fleisch, Milch, Brot oder auch Wasser und damit Mehrbelastungen von 1,7 Milliarden Euro verhindert zu haben. Dass der MR-Chef offenbar Vorschläge De Wevers ausgeplaudert hat und auch die derzeit diskutierten Pläne zur Steuerreform in Bedrängnis gebracht haben könnte, kam nicht nur in den Reihen der N-VA alles andere als gut an.
Prévot, der mit den französischsprachigen Liberalen in Wallonien ein Regierungsbündnis eingegangen ist, steht daher vor einer ziemlich kniffligen Aufgabe. Was jedoch für einen Erfolg seiner Mission spricht, ist der Mangel an Alternativen für die Regierungsbildung. Nicht ausgeschlossen ist es, dass der jüngste Krach die Gespräche über die Regierungsbildung weiter hinauszögern könnte – möglicherweise über die am 13. Oktober anstehenden Kommunalwahlen hinaus.
Was hieße es, sollte sich die Regierungsbildung verzögern?
Eine solche Entwicklung könnte, auch wenn er dies öffentlich nicht so formuliert, Vooruit-Chef Rousseau durchaus gelegen kommen. Denn dass ein Arizona-Bündnis der Bevölkerung schmerzhafte Einschnitte zumuten dürfte, steht weiter außer Frage. Für die flämischen Sozialisten, die bei der Wahl im Juni nach vier Jahren Vivaldi-Koalition deutliche Stimmengewinne verzeichnen konnten, könnte es daher als Partner einer frischgebackenen Arizona-Bündnisses ungemütlich werden. Die linke Konkurrenz, neben den Grünen vor allem die populistische Partei PVDA/PTB, steht bereit, den anstehenden „Rechtsruck“ – mit Vooruit-Mitwirkung – anzuprangern.
Die Frage bleibt, ob sich die Positionen – oder Personen – von MR und Vooruit doch noch unter einen Hut bringen lassen. Zweifel sind nicht von der Hand zu weisen. So hatte Melissa Depraetere, damals Vooruit-Parteichefin, Mitte Juni, ein paar Tage nach der Wahl, der Zeitung „De Tijd“ erklärt: „Ich will nicht groß drum herumreden: MR-Chef Georges-Louis Bouchez ist eine komplett nicht vertrauenswürdige Figur.“
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