Von Reinhard Boest
In der großen Meinungsumfrage (“Grand Baromètre, Grote Peiling”), die das Institut Ipsos Ende März im Auftrag der Zeitungen Le Soir und Het Laatse Nieuws sowie der Fersehsender RTL und VTM durchgeführt hat, ging es nicht nur um die politische Stimmung in Belgien (Dunkle Wolken am politischen Horizont Belgiens – Belgieninfo). Darüber hinaus wurde die Haltung zu einigen aktuellen Themen abgefragt: Atomkraft, Rente, Krieg in der Ukraine und Umgang mit Asylsuchenden. Mit Blick auf das Wahljahr 2024 dürfte die Politik auch ein großes Interesse daran haben zu wissen, welche Sorgen die Belgier am meisten umtreiben: es sind jedenfalls nicht die gerade genannten Themen…
Alle Atomkraftwerke in Belgien sollen weiterlaufen
Der Ausstieg aus der Atomkraft, in Belgien eigentlich seit über 20 Jahren geltendes Recht, verliert in der Bevölkerung offenbar immer mehr an Rückhalt. Mit ihrer im März 2022 getroffenen Entscheidung, angesichts der durch den Krieg in der Ukraine verschärften Unsicherheit bei der Energieversorgung die beiden “neuesten” Atomreaktoren 10 Jahre länger laufen zu lassen, hat die Regierung den Ausstieg bereits relativiert. Diese Entscheidung findet aber im ganzen Land breite Unterstützung: 69 Prozent der Befragten halten das für eine gute Sache. Das gilt für die Anhänger aller Parteien, erstmals selbst bei Ecolo/Groen (wenn auch mit einer geringeren Zustimmungsrate). Die Umsetzung der im Januar mit dem Betreiber Engie getroffenen Vereinbarung über den Weiterbetrieb der Meiler Doel 4 und Tihange 3 steht allerdings noch aus.
58 Prozent – auch hier ohne signifikanten Unterschied zwischen den Regionen – sind sogar der Meinung, dass man alle Atomkraftwerke in Belgien länger laufen lassen sollte, also auch diejenigen, die bereits abgeschaltet sind. 57 Prozent (60 Prozent in Flandern, 52 in der Wallonie) sprechen sich dafür aus, auch in den Bau neuer Atommeiler zu investieren. Hier gibt es eine klare Ablehnung nur bei der grünen Wählerschaft (und etwas geringer bei PTB/PVDA).
Noch 2013 und 2017 zeigten Umfragen eine deutliche Mehrheit gegen die Nutzung der Atomkraft für den Übergang zu einer CO2-freien Gesellschaft. Der Umschwung fand im Jahr 2021 statt, als erstmals mehr Befragte für die Nutzung der Atomkraft waren (32 Prozent) als dagegen (23 Prozent). Über die Gründe kann man nur spekulieren. Der russische Angriff auf die Ukraine fand ja erst im Februar 2022 statt. Offen ist auch, was man konkret mit den aktuellen Umfrageergebnissen anfangen kann. Es wurde nicht nach den Gründen für die Meinung gefragt, ebensowenig nach der Dauer einer Verlängerung, den Alternativen oder den Kosten. Es bleibt also abzuwarten, welche Schlüsse die politischen Akteure aus diesem Stimmungsbild ziehen und ob dieses von Dauer ist, wenn es “konkret” wird – also etwa über Kosten und Standorte zu entscheiden ist.
Gegen die Rente mit 67
Fast 70 Prozent der Befragten lehnen die bereits 2015 unter der Regierung von Charles Michel beschlossene Verschiebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ab. Derzeit liegt es bei 65 Jahren, in zwei Jahren steigt es auf 66 und 2030 dann auf 67 Jahre. Etwas überraschend: Die Ablehnung ist gegenüber der vorigen Umfrage zu dem Thema (Juni 2018) in Flandern deutlich gestiegen (von 62 auf 68 Prozent), dagegen in der Wallonie (von 76 auf 73 Prozent) und in Brüssel (von 66 auf 64 Prozent) rückläufig. Im Durchschnitt finden die Belgier ein Rentenalter zwischen 62 und 63 Jahren gerecht. 60 Prozent meinen, dass man “ausreichend” gearbeitet haben sollte, um Anspruch auf eine komplette Rente zu haben. In der Tat kommt es nicht nur auf das Alter an, sondern auch auf die Zahl der Beitragsjahre. So kann man derzeit in Belgien mit 60 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn man 44 Jahre Beiträge gezahlt hat, und mit 63 bei 42 Beitragsjahren. In einem Interview im Fernsehsender VTM sagte Premierminister Alexander De Croo als Reaktion auf die Umfrage, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter derzeit zwischen 62 und 63 Jahren liege. Daran werde sich auch nicht viel ändern, da es eben weiterhin auf die Beitragszeiten ankommen werde. Jedenfalls sind trotz dieses Votums gegen die Rente mit 67 in Belgien wohl keine französischen Verhältnisse zu befürchten, wo derzeit die Anhebung von 62 auf 64 Jahre für Aufruhr sorgt. Einfacher wird deshalb die in Belgien noch ausstehende Reform der weiterhin nebeneinander bestehenden Sonderregime zur Altersversorgung verschiedener Berufsgruppen wohl nicht.
Tut Belgien zuviel für Asylbewerber?
Sehr kritisch äußern sich die Befragten zum Umgang mit der zunehmenden Zahl von Asylbewerbern. Die Regierung tue nicht zuwenig, wie manche Gerichtsurteile aus der jüngsten Zeit feststellen, sondern nach Auffassung von 56 Prozent zuviel. In Flandern liegt der Anteil sogar bei 59 Prozent und – wenig überraschend – bei Anhängern von N-VA und Vlaams Belang noch einmal deutlich höher. Nur in Brüssel ist eine Mehrheit der Meinung, es werde genug oder gar zu wenig für Asylbewerber getan. Eine Mehrheit von 63 (in Flandern 69) Prozent ist dagegen, weitere Aufnahmeplätze zu schaffen, worum sich gerade die zuständige Staatssekretärin Nicole de Moor von den flämischen Christdemokraten bemüht, und sieht darin ein Mittel gegen einen weiteren Zustrom.
Offen bleibt, ob dies auch für Menschen gelten soll, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. 56 Prozent der Belgier sind jedenfalls der Auffassung, dass die Ukraine sich um Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges bemühen sollte, allerdings mit deutlichen Unterschieden nach parteipolitischem Hintergrund: von 46 Prozent bei den Grünen bis 63 Prozent bei den Liberalen. Nicht gefragt wurde nach den Bedingungen für Verhandlungen, die bekanntlich in Kiew und Moskau ganz unterschiedlich definiert werden. Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten 44 Prozent, 35 Prozent sind dagegen.
Welche Sorgen treiben die Belgier besonders um?
Die im Mai 2024 anstehenden Wahlen werfen schon ihre Schatten voraus. Die Politik sollte sich also insbesondere für die Themen interessieren, die den Belgiern besondere Sorgen machen. Das sind weder die Atomkraftwerke noch die Rente mit 67. Auch bei den Energiepreisen hat sich die vor einigen Monaten verbreitete Panik etwas gelegt.
Die Frage nach den drei wichtigsten “Sorgenthemen” wird im Norden und Süden des Landes unterschiedlich beantwortet. In Flandern stehen bezahlbares Wohnen (41 Prozent), die Qualität der Schulen (31 Prozent) und die Integration von Zugewanderten (29 Prozent) an der Spitze. In der Wallonie und in Brüssel ist die Kaufkraft mit Abstand das wichtigste Thema, insbesondere angesichts der weiter anhaltenden Preissteigerungen für die Güter des täglichen Bedarfs. Bezahlbarer Wohnraum steht in Brüssel an zweiter Stelle (33 Prozent), während dies nur für 15 Prozent in der Wallonie ein Problem ist. Als drittes wird schließlich die Gesundheitsversorgung genannt. An “Baustellen” mangelt es also nicht.
Beiträge und Meinungen