Belgische Entwicklungshilfeministerin Caroline Gennez stellt Zusammenhang zwischen Nazi-Verbrechen und Israels Vorgehen im Gaza-Streifen her und sorgt für Irritationen im Verhältnis zu Deutschland. Premier De Croo distanziert sich von Gennez-Äußerungen.
Von Michael Stabenow
Es kommt nicht häufig vor, dass Botschafter sich öffentlich kritisch zur Lage im Gastland äußern. Vielen Deutschen ist in unguter Erinnerung, wie sich Andrij Melnik, von 2015 bis Ende 2022 ukrainischer Botschafter in Berlin, in Talkshows und anderswo über die Haltung der Bundesregierung ereifert hat. Martin Kotthaus, seit Herbst 2018 deutscher Botschafter in Belgien, gehört gewiss nicht zu dieser Sorte von Diplomaten. Bei öffentlichen Auftritten, aber auch hinter den Kulissen setzt er auf Ausgleich und gedeihliche Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und seinem Nachbarn Belgien.
Dass Kotthaus, wie jetzt geschehen, auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) ohne Umschweife sich kritisch zu Äußerungen eines belgischen Regierungsmitglieds auslässt, ist daher ungewöhnlich. Was war der Anlass? Entwicklungshilfeministerin Caroline Gennez, frühere Vorsitzende der jetzt unter „Vooruit“ firmierenden flämischen Sozialisten, hatte in einem Interview mit der Wochenzeitschrift „Knack“ den Holocaust und die Entwicklung im Gaza-Streifen in einen Zusammenhang gestellt sowie „unsere deutschen Freunde“ gefragt: „Wollt Ihr wirklich zweimal auf der falschen Seite der Geschichte stehen?“
Dass in Belgien die Stimmung im Angesicht des Kriegs im Gaza-Streifen israelkritischer als in Deutschland ist, lässt sich im längst angelaufenen Werben um die Stimmen bei der belgischen Parlamentswahl am 9. Juni nicht überhören. Auch als besonnen geltende Politikerinnen wie die stellvertretende Premierministerin Petra De Sutter, eine flämische Grüne, werben dafür, sich der Klage Südafrikas vor dem Haager Internationalen Gerichtshof gegen Israel wegen Völkermordes anzuschließen. Unterstützt wird dieses Ansinnen von den sozialistischen Parteien beider Landesteile, aber auch, was aus deutscher Sicht erstaunlich anmuten muss, von den einst in Belgien übermächtigen flämischen Christlichen Demokraten.
Botschafter Kotthaus äußerte sich in seiner Stellungnahme, in diesem Punkt ganz Diplomat, nicht zu den Forderungen belgischer Politiker nach juristischen Schritten gegen Israel. Vielmehr verwies er auf die durch das Vermächtnis der Nazi-Schreckensherrschaft bedingte deutsche Verantwortung gegenüber Israel. Für die Sicherheit des Landes trage Deutschland eine „besondere Verantwortung“. Doch schon im zweiten Satz seiner Stellungnahme bezog sich der deutsche Botschafter klipp und klar kritisch auf die Äußerungen von Gennez: „Vergleiche von Shoah und dem, was zur Zeit passiert, verbieten sich von selbst.“
Außenministerin Annalena Baerbock habe, so Kotthaus, die Haltung der Bundesregierung zum Konflikt „sehr deutlich gemacht“. Israel habe das Recht, sich gegen den fortdauernden Hamas-Terror zu verteidigen, müsse aber auch „alles tun“, Zivilisten zu verschonen und entsprechend sein militärisches Vorgehen darauf ausrichten. Zudem erinnerte der Diplomat an die deutsche Ablehnung des Siedlungsbaus im Westjordanland und das Eintreten Berlins zugunsten einer für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser unerlässlichen Zweistaatenlösung. Schließlich verwies Kotthaus darauf, dass Deutschland in den vergangenen beiden Monaten die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen auf mehr als 200 Millionen Euro verdreifacht habe.
Gennez billigte in der Talkshow „De Afspraak“ des flämischen Fernsehsenders VRT unter Bezug auf jüngste Äußerungen Baerbocks zu, dass sich in Deutschland die Dinge in die richtige Richtung bewegten. Das hatte die während des belgischen EU-Ratsvorsitzes im Kreis der Entwicklungsminister der 27 Mitgliedstaaten – zum Beispiel beim informellen Treffen der Minister am 11. und 12. Februar – zu einer ausgleichenden Haltung verpflichtete Politikerin nicht daran gehindert, zuvor in de „De Afspraak“ für erhebliche Irritationen zu sorgen.
Der in der jüdischen Gemeinschaft Belgiens tief verwurzelte und der flämisch-nationalistischen „Neu-Flämischen Allianz“ (N-VA) angehörende Parlamentarier Michael Freilich hatte sich in der Sendung dagegen verwahrt, Israel mit den Greueltaten der Nationalsozialisten gleichzusetzen. Gennez behauptete daraufhin: „Ich habe in keiner Weise Israel mit Nazi-Deutschland gleichgestellt.“
Dann begab sich die Politikerin, passend zur derzeitigen Witterung in Belgien, auf diplomatisches Glatteis. „Viele deutsche Kollegen“ hätten ihr gesagt, dass in Deutschland keine „auf Fakten beruhende Debatte“ über die Situation in Israel und Palästina möglich sei. Vielleicht kann sich die Ministerin ja durch ihre – ebenfalls sozialdemokratische – deutsche Amtskollegin Svenja Schulze beim Treffen im Februar eines Besseren belehren lassen. Wer nicht nur „De Afspraak“ schaut, sondern gelegentlich deutsche Fernsehsender einschaltet oder in deutsche Zeitungen blickt, kann freilich auch von Belgien aus feststellen, dass der Eindruck von Gennez nicht generell geteilt wird.
Schließlich bleibt die nicht nur aus deutscher Sicht beklemmend wirkende Antwort der belgischen Ministerin auf die Frage von „De Afspraak“-Moderator Bart Schols, auf welcher Seite der Geschichte Deutschland stehe: „Jeder, der nicht alles unternimmt, die Gewalt zu beenden und unschuldige Bürger zu schützen, der steht an der falschen Seite der Geschichte.“ Es herrscht wohl noch Gesprächsbedarf zwischen Berlin und Brüssel, um die jüngsten Wogen zu glätten – nicht zuletzt, gemäß gutem diplomatischem Brauch, hinter den Kulissen.
Vor allem gilt es in einem emotionsgeladenen belgischen Wahlkampf darauf zu achten, dass sich beim Schielen auf die Stimmlokale nicht ein Zerrbild verfestigt – ein Zerrbild, das nicht die Realität in Deutschland mit dem für den östlichen Nachbarn Belgiens besonders sensiblen Umgang mit der Geschichte und der Verantwortung gegenüber Israel widerspiegelt. Dass Gennez in „De Afspraak“ auf wiederholtes und hartnäckiges Nachfragen von Moderator Schols, ob Premierminister De Croo ihre Auffassung teile, regelrecht herumeierte, lässt immerhin darauf schließen, dass bei weitem nicht jeder Verantwortung tragende belgische Politiker so denkt wie die flämische Sozialistin. De Croo distanzierte sich am Freitag von den Äußerungen von Gennez. “Ich denke nicht, dass wir andere europäische Länder kritisieren sollten”, sagte er dem Sender VRT. Als EU-Vorsitzland könne Belgien vielmehr auf andere Länder einwirken, um zu einer gemeinsamen europäischen Haltungzu gelangen. Gennez ließ den Sender am Freitag wissen, sie habe “ein positives Gespräch” mit Botschafter Kotthaus geführt. Aus ihrem Mitarbeiterkreis hieß es, die Ministerin werde weiter für eine gemeinsame EU-Position zu einem dauerhaften Waffenstillstand, die Freilassung der israelischen Geiseln sowie eine ungehinderte humanitäre Hilfe eintreten. Tags zuvor hatte N-VA-Fraktionschef Peter De Roover im Parlament den von Gennez bestrittenen Vergleich mit dem Holocaust beklagt und sogar von einem “Kopfstoß gegen Deutschland” gesprochen.
Beiträge und Meinungen