Von Michael Stabenow
Bart De Wever ist am Ziel. Glaubt man dem 54 Jahre alten Flamen, ist es eines, das er sich eigentlich überhaupt nicht gewünscht hat. Viel lieber wäre er demnach geblieben, was er seit Anfang 2013 ist: Bürgermeister seiner etwas mehr als eine halbe Million Einwohner zählenden Heimatstadt Antwerpen. Nun ist es anders gekommen: De Wever, dessen Neu-Flämische Allianz (N-VA) in Artikel 1 ihres Parteistatuts nach wie vor „die unabhängige Republik Flandern“ propagiert, wird als belgischer Regierungschef der fünf Parteien umfassenden „Arizona-Koalition“ Verantwortung für die Geschicke aller rund 11,8 Millionen in Belgien lebenden Bürgerinnen und Bürgern tragen.
Was wie ein Widerspruch anmutet, ist es für den Sohn eines stramm rechtsnationalistischen Vaters nicht. Der studierte Historiker Bart De Wever, der seine Bewunderung für die Römerzeit öffentlich gerne mit lateinischen Zitaten zelebriert, zieht durchaus Lehren aus geschichtlichen Entwicklungen. Vor zwei Jahrzehnten hatte er als junger Vorsitzender der aus dem Scherbenhaufen der einstigen flämisch-nationalistischen Partei Volksunie hervorgegangenen N-VA aus zwölf Lastwagen in Wallonien eine riesige Ladung 50 Euro-Scheine auskippen lassen – als Symbol für die Milliardentransfers aus dem Nord- in den Südteil Belgiens.
Im Gegensatz zum rechtsradikalen Vlaams Belang stehen De Wever und seine Partei, die er trotz der offiziellen Begrenzung auf zwei Amtszeiten seit 2004 führt, für einen evolutionären Umbau Belgiens. Das Emotionen weckende Bild eines Südteils des Landes, der auf Kosten des florierenden Flanderns lebe, pflegt De Wever zwar weiterhin. Aber schon mit der Regierungsteilnahme seiner Partei an der sogenannten schwedischen Koalition mit den liberalen Parteien beider Landesteile (MR und Open VLD) und den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) zeigte sich, dass mehr Rechte (und gar die Unabhängigkeit) für Flandern keineswegs die einzige Triebfeder der N-VA sind.
Auch in der neuen Arizona-Koalition mit MR, CD&V, der zentristische Partei „Les Engagés“ sowie den flämischen Sozialisten (Vooruit) soll es, mangels möglicher Verständigung über eine weitere umfassende, dann siebte Staatsreform darum gehen, in der Haushalts- und Sozial-, aber auch in der Migrations- und Umweltpolitik das politische Ruder nach rechts zu richten – auch wenn die Rücksichtnahme auf die kleineren Koalitionspartner CD&V, Les Engagés und Vooruit diesem Streben manche Grenzen gesetzt hat.
Die Einsicht, dass nicht nur die französischsprachigen Belgier, sondern auch eine Mehrheit der Flamen nach wie vor eine Spaltung des Königreichs ablehnt, hat De Wever dazu gebracht, seine Zielvorstellungen anzupassen. Statt „Unabhängigkeit“ sieht er „Konföderalismus“ als „logischen nächster Schritt“. Im flämischen Hörfunksender VRT erklärte De Wever Mitte vergangenen Jahres: „Wenn das funktioniert, dann reicht das auch für mich auch aus. Ich bin nicht davon besessen. Nationalismus ist ein Mittel, um gut zu regieren. Er ist kein Selbstzweck.“
Dahinter steht auch die von De Wever in dem Interview ausgeführte Erkenntnis, dass im geopolitisch unruhigen 21. Jahrhundert das Streben nach staatlicher Unabhängigkeit eine andere Wertigkeit erhalte. „Das bedeutet, dass man auch auf einen größeren Maßstab blicken muss“, sagte der Politiker.
Weitreichende institutionelle Reformen, mit Ausnahme der Abschaffung des Senats, der ohnehin nur noch mit sehr begrenzten Befugnissen ausgestatteten zweiten Parlamentskammer, wurden jetzt im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Allerdings sollen die Regionen im Dialog mit dem Föderalstaat mehr Möglichkeiten erhalten, Einfluss auf bisher klassische bundesstaatliche Politikfelder wie Arbeitsmarkt und Renten zu nehmen.
De Wever hat es verstanden, sein Streben an die Spitze der Regierung nicht als Frage des persönlichen Ehrgeizes, sondern vielmehr der politischen Vernunft darzustellen. Auch Kritiker bescheinigen trotz der sich über gut sieben Monate hingezogenen Koalitionsverhandlungen durchaus Verhandlungsgeschick und Geschmeidigkeit. Bei öffentlichen Auftritten pflegt er hingegen gerne das Image eines Politikers, der nicht nur alles, sondern oft alles besser weiß. Er kann durch Detailwissen bestechen – zum Beispiel als er in einer Fernsehquizsendung Tierkot zuordnen konnte. In Debatten, gerne ebenfalls im Fernsehen, kann ihm rhetorisch kaum jemand das Wasser reichen.
Dieser demonstrativen öffentlichen Selbstgewissheit und zuweilen auch Selbstgerechtigkeit stehen durchaus Selbstzweifel gegenüber, wie sie zuletzt auch in einem vom Fernsehsender VTM ausgestrahltem Porträt des Publizisten Paul Jambers zu beobachten waren (BDW. Politiek Beest – Seizoen 2024 – Kijk volledige afleveringen op VTM GO). Einen Sinn für Humor, eher auf Kosten anderer, besitzt De Wever durchaus. Herzhaft lachen sieht man den Vater von vier Kindern, zumindest in der Öffentlichkeit, hingegen kaum.
Stattdessen schmückt De Wever seine Auftritte gerne mit lateinischen Zitaten und Anspielungen, die kaum jemand direkt versteht, sowie mit zuweilen pompösem Zeremoniell. Mit 200 Getreuen seiner Partei begab er sich nach seinem Antwerpener Wahlsieg 2012 zu vorgerückter Stunde in einer Art Triumphmarsch zum historischen Rathaus. Zwölf Jahre später begleitete Sohn Hendrik am Abend der abermals erfolgreichen Kommunalwahl den Vater mit einem Wappen samt Raubvogel und der Aufschrift „SPQA“ – eine auf Antwerpen bezogene Spielart des römischen Hoheitszeichens „SPQR“ („Der Senat und das Volk von Rom“).
Kein Wunder, dass der neue Regierungschef die Verständigung auf den Arizona-Koalitionsvertrag mit dem Julius Caesar zugeschriebenen lateinischen Zitat kommentierte: „Alea iacta est“ („Die Würfel sind gefallen). Überschritt der Römer in seinem Machtstreben einst den Rubikon, so bleibt abzuwarten, welches Schicksal Belgien mit dem ans Ziel – oder, wie einst Caesar, nur an ein Zwischenziel? – gelangten neuen Regierungschef beschieden sein wird.
Klappt es mit der Vereidigung De Wevers am Montag, dann werden sich die Staats- und Regierungschefs der übrigen 26 EU-Staaten schon bei dem an diesem Tag in Brüssel stattfindenden informellen Gipfeltreffen erste Eindrücke des neuen belgischen Regierungschefs machen können. Vielleicht wird ihn der eine oder andere fragen, ob er sich weiter, wie schon 2011, als „Eurorealist“ versteht.
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