Aktuell, Kultur

Musikerlebnis hinter bröckelnden Mauern

Ein Konzert mit jungen Musikern im Brüsseler Konservatorium

Von Reinhard Boest

Nach einem seit 25 Jahren andauernden quälenden Hin und Her gibt es endlich berechtigte Aussicht, dass das Gebäude des Brüsseler Musikkonservatoriums endlich gründlich saniert wird. Im Dezember 2023 wurde die Baugenehmigung erteilt, und im kommenden Juli sollen die Arbeiten beginnen. Schon seit dem vergangenen Herbst ist man mit einer Serie von Konzerten aus allen Musikgenres auf “Abschiedstour” – bis Ende Juni und unter dem hoffnungsvollen Motto “See you after the break”.

Am vergangenen Sonntag hatte ich Gelegenheit, ein Konzert im großen Saal des Konservatoriums zu genießen. Der hat seit meinem ersten Besuch dort im Jahr 1999 nichts von seinem etwas morbiden Charme verloren, verzaubert aber weiter durch seine besondere Akustik. Es ist allerdings ein Wunder, dass trotz abblätternder Farbe und zuweilen auf dem Podium platzierter Eimer, um das durch die Decke eindringende Regenwasser aufzufangen, der Konzertbetriebs so lange aufrechterhalten werden konnte. Im Herbst 1999 fand eines der ersten Brüsseler Konzerte der Neubrandenburger Philharmonie im Konservatorium statt – und auf die Frage, ob sie im folgenden Jahr wiederkommen dürften, hieß es: “Leider nicht, dann wird das Konservatorium endlich saniert.” Seither geht der Verfall weiter, der Saal ist noch nicht eingestürzt, aber in einem Übungsraum soll vor einigen Jahren ein Piano durch die Decke gebrochen sein, zum Glück außerhalb der Übungsstunden. Trotz dieser Widrigkeiten hat das Konservatorium auch international seinen hervorragenden künstlerischen Ruf behalten; derzeit sind etwa 1.200 Studenten aus aller Welt eingeschrieben.

Viele Absolventen saßen jetzt als Mitglieder des “Brussels Philharmonic Orchestra auf dem Podium. Dieses Orchester – nicht zu verwechseln mit dem professionellen “Brussels Philharmonic”, dem Hausorchester des Flagey – ist ein von Freiwilligen getragenes Projekt, das jungen Absolventen der belgischen Musikkonservatorien die Möglichkeit geben soll, sich fünf bis sechs Mal im Jahr zusammen vor einem größeren Publikum zu präsentieren. Geleitet wird es von dem belgisch-chilenischen Dirigenten David Navarro-Turres, auch er ein Absolvent des Brüsseler Konservatoriums.

Zusammen mit zwei jungen Solisten, der türkischen Pianistin Cansu Sanlidag und dem belgischen Cellisten Pierre Fontenelle, wurde den zahlreich erschienenen Zuhörerinnen und Zuhörern ein abwechslungsreiches Programm geboten: Fontenelle spielte zunächst die nostalgische “Elegie für Cello und Orchester” des zeitgenössischen belgischen Komponisten Dirk Brossé, gefolgt von einem weniger bekannten, tief bewegenden Cello-Stück von Max Bruch. “Kol Nidrei” basiert auf dem jüdischen Gebet, das am Vorabend der höchsten Feiertages, Jom Kippur, gebetet wird. Während der Nazizeit wurde der schon 1920 gestorbene Bruch wegen dieser Komposition fälschlicherweise als Jude angesehen, und seine Musik wurde nicht mehr aufgeführt.

Cansu Sanlidag verzauberte anschließend das Publikum mit Beethovens viertem Klavierkonzert, das viele für sein schönstes halten. Den Abschluss bildete Felix Mendelssohn-Bartoldys temparamentvolle “Italienische Sinfonie” – eine angesichts des draußen herrschenden kalten Wetters willkommene Reminiszenz an Wärme und Süden. Das Publikum dankte den Solisten und dem jungen Orchester mit lang anhaltendem Beifall für ein wunderbares Musikerlebnis.

Und was wird jetzt aus dem Konservatorium?

Das in der Rue de Régence in der Nähe des Justizpalastes und neben der Synagoge gelegene Königliche Konservatorium ist ein typisch belgisches Unikat. Das zwischen 1872 und 1876 durch den Architekten Jean-Pierre Cluysenaar errichtete Gebäude beherbergt nämlich nicht nur ein Konservatorium, sondern gleich zwei: das von der Föderation Brüssel-Wallonie getragene “Conservatoire Royal de Bruxelles” mit etwa 700 Studenten und das Koninklijk Conservatorium Brussel (etwa 500 Studenten) unter der Ägide der Flämischen Gemeinschaft. Außerdem ist die föderal verwaltete “Régie des Bâtiments” für die Bau- und Betriebsangelegenheiten beteiligt. Alle drei müssen zusammenwirken, haben sich über die Jahre aber eher gegenseitig blockiert, nicht nur über die Finanzierung, sondern auch über die – typisch belgische – institutionelle Frage eines rechtlichen Rahmens für eine Einrichtung mit mehreren verschiedenen Akteuren. Seit 2007 hat der Verein “Conservamus”, in dem sich Unterstützer des Sanierungsprojekts zusammengefunden haben, durch fachliche Vorarbeiten, aber auch die Finanzierung etwa neuer Fenster, dazu beigetragen, dass es jetzt endlich vorangeht.

Für die Sanierung werden Kosten in Höhe von 75 Millionen Euro veranschlagt, zu denen die beiden Gemeinschaften und die Föderalregierung je ein Drittel beitragen. Die restlichen 15 Millionen Euro kommen von Beliris, dem Träger föderaler Bauvorhaben in Brüssel, der auch mit der Ausführung der Arbeiten beauftragt ist. Ab Juli 2024 sollen die Gebäude zunächst von Asbest gereinigt werden. Neben der Sanierung des großen Konzertsaals mit seiner berühmten Orgel von Aristide Cavaillé-Coll aus dem Jahr 1880 sollen ein neuer Kammermusiksaal mit 150 Plätzen und ein Übungsraum entstehen. Die umfangreiche Bibliothek mit ihrer einzigartigen Partitursammlung findet eine neue Bleibe im Keller. 2029 soll das Konservatorium in neuem Glanz wiedereröffnet werden.

Wie bei der Brüsseler Metro geht es um eine unendliche Brüsseler Baugeschichte. Bleibt zu hoffen, dass hier vielleicht einmal der Zeit- und Kostenplan eingehalten wird. Auch damit die jungen Musiker eine dauerhafte Bühne für ihre Konzerte bekommen. Ein Konzert des Orchesters findet noch im Konservatorium  statt: am 15. Juni mit Werken der französischen Komponisten Ravel, Poulenc und Debussy, vielleicht das letzte vor dem Beginn der Sanierungsarbeiten. 

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Rückseite (Rue des Laines)
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Rückseite (Rue des Laines)
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Pierre Fontenelle
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Cansu Sinledag
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David Navarro-Turres

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