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In Brüssel alles wieder auf null

David Leisterh, Georges-Louis Bouchez © MR

Regierungsbildner David Leisterh gibt auf, MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez übernimmt

Von Reinhard Boest

Gut 500 Tage nach den Regionalwahlen im Juni 2024 wirft der Verhandlungsführer, der frankophone Liberale David Leisterh (MR), endgültig das Handtuch. Dieser Schritt hatte sich schon am vergangenen Wochenende angedeutet, nachdem eine erneute Verhandlungsrunde über den Haushalt für die Region Brüssel gescheitert war. Leisterh hatte seine Vorschläge als “letztes Angebot” bezeichnet und sich anschließend einige Tage des Nachdenkens verordnet.

Leisterh zieht sich jetzt ganz aus der regionalen und nationalen Politik zurück und will nur noch Bürgermeister seiner Gemeinde Watermael-Boitsfort (Watermaal-Bosvoorde) in Brüssel sein. Dabei war erst vor kurzem als MR-Vorsitzender in Brüssel bestätigt worden, und sein Parteivorsitzender Georges-Louis Bouchez soll ihn sogar als föderalen Innenminister in Betracht gezogen haben. Leisterh sah seine Aufgabe aber darin, nach dem Wahlsieg des MR bei der Brüsseler Regionalwahl – bei der der MR die frankophonen Sozialisten (PS) als stärkste Partei ablöste – eine Regierung zu bilden. Er habe, so Leisterh, “alles gegeben” – aber es hat offenbar nicht gereicht.

Der Liberale ist letztlich nicht nur an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der potenziellen Partner gescheitert, die für eine Regierungsbildung in Brüssel notwendig wären. Es sind vor allem die außerordentlich komplizierten Regeln, die nach der belgischen Verfassung für die Region gelten. Sie haben in der aktuellen politischen Situation eine Einigung fast unmöglich erscheinen lassen. So wird verlangt, dass eine Regierung, um ins Amt zu kommen, im Parlament eine “doppelte” Mehrheit braucht: im Parlament insgesamt, aber auch in den beiden Sprachgruppen, aus denen es sich zusammensetzt (72 Frankophone, 17 Niederländischsprachige).

Nachdem sich in der frankophonen Gruppe schon kurz nach der Wahl eine Mehrheit abzeichnete (MR, PS und Les Engagés), dauerte es in der niederländischsprachigen Gruppe wegen der Zersplitterung (die 17 Sitze verteilten sich auf acht Parteien) deutlich länger. Als deutlich wurde, dass daran die flämischen Natiuonalisten (N-VA) beteiligt sein sollten, legte der PS-Vorsitzende Ahmed Laaouej ein Veto ein, das bis heute anhält.

Er verweist – wie übrigens auch Vertreter anderer frankophonen Parteien – auf die kritische Haltung der N-VA zum Föderalstaat Belgien insgesamt und zur Autonomie der Region Brüssel-Hauptstadt im Besonderen. Wahrscheinlich spielt auch eine Rolle, dass der PS nach dem Verlust der Spitzenpositionen in Brüssel, der Wallonie und der für Bildung und Kultur zuständigen Föderation Wallonie/Brüssel (FWB) sowie seinem Ausscheiden aus der Föderalregierung seine Opposition gegen die vom N-VA-Premierminister Bart De Wever geführte Regierung deutlich machen will.

Auf der anderen Seite ziert sich vor allem der Chef der flämischen Liberalen, Frédéric De Gucht, der auf einer Beteiligung der N-VA um jeden Preis besteht.

Belgieninfo hat regelmäßig über die vielfältigen Versuche berichtet, Auswege aus dieser Sackgasse zu finden. Leisterh ist nicht der erste, darüber aus dem Amt geschieden ist. Vorher hat auch schon Christophe De Beukelaar (Les Engagés) nach einer gescheiterten Vermittlungsmission sein Amt als Brüsseler Parteivorsitzender aufgegeben.

Zuletzt ging es aber nicht einmal um die Bildung einer neuen Regierung, sondern um die vordringliche Frage des Regionalhaushalts. Darüber haben zuletzt sechs Parteien (ohne die N-VA) verhandelt. Die derzeitige vorläufige Haushaltsführung drückt die Region immer tiefer in die roten Zahlen, und eine weitere Abwertung durch die Rating-Agenturen ist absehbar. Ziel der Verhandlungen war es, bis 2029 (also dem Ende der laufenden Legislaturperiode) Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro zu realisieren – bei einem Regionalhaushalt von 7,5 Milliarden Euro. Aber die Parteien konnten sich weder auf das Volumen noch auf die Bereiche einigen, in denen gespart oder die Einnahmen erhöht werden sollen.

Der MR hält an seinem Anspruch fest, als Wahlsieger den künftigen Ministerpräsidenten der Region zu stellen. Jetzt soll der Parteivorsitzende Georges-Louis Bouchez den Stab übernehmen. Es war nicht zu übersehen, dass er von Beginn an – mehr oder weniger im Hintergrund – die Fäden gezogen hat, genauso wie er an den Regierungsverhandlungen auf der föderalen Ebene sowie in der Wallonie und der FWB an vorderster Front beteiligt war.

Bouchez ist allerdings in der Region politisch nicht verankert, und er ist in keine der von ihm mitverhandelten Regierungen eingetreten, sondern wirkt eher “von der Seitenlinie” mit. Keiner seiner zum Teil unkonventionellen Vorschläge zur Lösung der Krise in Brüssel fand eine ausreichende Unterstützung. Außerdem ist Bouchez bisher kaum durch übermäßige Zurückhaltung aufgefallen. Es ist kaum vorstellbar, dass seine Methode eher zum Erfolg führt als eine diskrete und ruhige Verhandlungsführung wie bei bisherigen – leider auch erfolglosen – Vermittlungsversuchen.

Anlässlich des eher traurigen “500 Tage-Jubiläums” haben sich viele mehr oder weniger namhafte Brüsseler zu Wort gemeldet und dringend an die politisch Verantwortlichen appelliert, endlich aus der Krise herauszukommen. Insbesondere der frühere sozialistische Ministerpräsident Charles Piqué warnte davor, die über lange Zeit erkämpfte Autonomie der Region Brüssel-Hauptstadt – trotz ihrer Unvollkommenheit – aufs Spiel zu setzen. Es drohe ganz konkret, dass Brüssel unter Kuratel der Föderalregierung oder der anderen Regionen gerate.

Einige Verfassungsjuristen sind inzwischen überzeugt, dass eine nachhaltige Lösung des Problems nur im Zuge einer neuen Staatsreform möglich sei. Das hieße allerdings eine Vertagung auf den Sankt-Nimmerleinstag. Und für die vielen Unternehmen, Vereine und Einrichtungen, die auf Zuwendungen aus dem Regionalhaushalt angewiesen sind, wäre es eine Katastrophe.

 

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