Aktuell, Politik

Hat die Atomkraft in Belgien (doch) eine Zukunft?


Von Reinhard Boest

Die belgische Energiepolitik ist derzeit etwas verwirrend. Das gilt jedenfalls für die Frage der Atomkraft. 

Noch vor zwei Jahren war der Ausstieg aus der Atomkraft bis 2025 beschlossene Sache - das ist immerhin seit 2003 in Belgien geltendes Recht. Dann kam die Energiekrise, 
ausgelöst durch den russischen Überfall auf die Ukraine. Ein durch durch die vorübergehende Nutzung von Gaskraftwerken begleiteter Übergang zu erneuerbaren Energien 
war schlagartig Makulatur. Zur Vermeidung von befürchteten Engpässen - vor allem im Winter 2025/26 - einigte sich die regierende "Vivaldi-Koalition" auf eine 
Verlängerung der Laufzeit um zehn Jahre für die beiden "jüngsten" belgischen Reaktoren: Doel 4 bei Antwerpen und Tihange 3 bei Huy im Maastal. Beide sind seit 1985 
am Netz und sollen jetzt bis 2036 weiterlaufen. 

Nach der Grundsatzeinigung zwischen der Föderalregierung und dem französischen Betreiber Engie im Januar und der Regelung von Details im Juni 2023 
(siehe https://belgieninfo.net/belgische-regierung-einigt-sich-mit-engie-ueber-den-weiterbetrieb-von-doel-und-tihange/) konnte die zuständige Föderalministerin 
Tinne Van der Straeten (Groen) am vergangenen Wochenende im flämischen Fernsehsender VRT verkünden, dass das Abkommen mit Engie jetzt "rund" sei. Entgegen dem 
im Juni vermittelten Eindruck waren anscheinend doch noch einige Punkte nicht ausverhandelt, insbesondere über die Kosten für den Rückbau der Meiler und den 
Atommüll. Den 1500 Seiten langen Vertrag muss die Regierung jetzt genehmigen, bevor die notwendigen Rechtstexte zur Umsetzung zunächst dem Staatsrat und dann dem 
Parlament vorgelegt werden. Van der Straaten geht davon aus, dass das Parlament noch vor den Wahlen im Juni darüber abschließend entscheiden und auch die 
Europäische Kommission zustimmen werde. Sie trat aber der Behauptung entgegen, dass die Vereinbarung mit Engie es erlaube, die Laufzeit nicht um zehn, sondern gleich 
um zwanzig Jahre zu verlängern.  

Dass damit die Debatte über die Nutzung der Atomenergie in Belgien abgeschlossen ist, war schon vor Entscheidung für eine Laufzeitverlängerung fraglich. Die flämische 
N-VA und die Liberalen beiderseits der Sprachgrenze (MR und Open VLD, die Partei des Premierministers) setzen sich seit längerem vehement für eine Revision des 
Atomausstiegs ein. Eine Umfrage aus dem vergangenen April scheint ihnen Recht zu geben: eine Mehrheit der Befragten sprach sich für die weitere Nutzung aus, 
einschließlich dem Weiterbetrieb aller Reaktoren, sogar der bereits stillgelegten. In der aktuellen Regierungskoalition unter Beteiligung der Grünen haben diese Ideen keine 
Chance. Es zeichnet sich aber ab, dass das Thema für die Wahlen und auch die anschließende Regierungsbildung von Gewicht sein wird.  

Premierminister Alexander De Croo hat mit seinem Auftritt bei der Klimakonferenz in Doha diesen Eindruck verstärkt. Er ist auf einem "Familienfoto" zu sehen, das die 
Initiatoren der "Erklärung zur Verdreifachung der Kernenergie bis 2050" zeigt. Vor allem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der Klimabeauftragte der 
US-Regierung John Kerry werben für diese Initiaitive als Schlüssel für die Erreichung des Ziels, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Sie konnten in Doha 
verkünden, dass bereits 22 Staaten die Erklärung unterstützen. In der Unterzeichnerliste finden sich elf Mitgliedstaaten der EU - aber (bisher?) nicht Belgien. 

Derzeit trägt die Kernenergie mit rund 400 Gigawatt installierter Leistung weltweit mit 10 Prozent zur Stromproduktion bei (in Belgien knapp 50 Prozent). Nach den 
Vorstellungen der Initiatoren soll die Verdreifachung bis 2050 zu etwa gleichen Teilen durch dem Zubau neuer (großer) Kraftwerke, kleine modulare Reaktoren (SMR) und 
die Laufzeitverlängerung bestehender Meiler auf bis zu 80 Jahre erreicht werden. Alle drei Elemente sind allerdings nach den jüngsten Erfahrungen mit Unsicherheiten 
behaftet. Neubauten werden immer teurer und dauern viel länger als geplant. Die SMR-Technologie soll erst ab 2035 verfügbar sein, und angesichts der - oft durch die 
Alterung des Materials bedingte - Ausfälle kann man sich eine Laufzeit von 80 Jahren derzeit nicht wirklich vorstellen. 

Auf der Liste der Unterzeichner fehlen wichtige Kernenergie-Produzenten wie China, Indien oder Südkorea (Russland auch nicht, aus naheliegenden Gründen), dafür sind 
Länder dabei, die Atomstrom noch gar nicht nutzen wie Ghana, Marokko, die Mongolei oder Polen. 

In einem Tweet im Anschluss an das Treffen in Doha wirbt De Croo mit dem Slogan "Atoms for Net Zero" und kündigt für den März 2024 den "ersten weltweiten 
Nukleargipfel" in Brüssel an. Er verweist auf die Laufzeitverlängerung für die beiden Reaktoren in Doel und Tihange und die geplanten Investitionen in neue kleine 
modulare Reaktoren (SMR). Dass er auch eine Vervierfachung der Stromproduktion aus Offshore-Windkraft erwähnt, mag man als Reverenz an die Kompromisse der 
aktuellen Regierung betrachten. Solche Kompromisse sind in der Klima- und Energiepolitik in Belgien immer schwerer zu finden. Man erinnert sich, dass die 
Föderalregierung und die Regionen es kaum geschafft haben, sich auf die vom EU-Recht geforderten Emissionsreduzierungen zu einigen. 

Es spricht jedenfalls viel dafür, dass das Thema Atomenergie sowohl im Wahlkampf als auch in den Koalitionsverhandlungen danach erneut eine wichtige Rolle spielen wird.        

© Foto: X-Account Alexander De Croo

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