Aktuell, Europa

Eine Lesung wie ein Politthriller

Von Heide Newson

So lebendig, unterhaltsam, spannend und höchst informativ wie Christoph Driessens Buch verlief die Lesung in der Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen in Kooperation mit der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und dem belgischen Rundfunk (BRF). Driessen


stellte sein neues Buch vor: „Griff nach den Sternen – Die Geschichte der EU”. Eine Besprechung ist im März bei Belgieninfo erschienen (https://belgieninfo.net/geschichte-der-eu-lehren-aus-krisen-und-erfahrungen/).

Der Zeitpunkt dieser Lesung, kurz vor den Europawahlen, mit denen die Bürger wieder an der Gestaltung und Sicherung der Demokratie und des Friedens in Europa mitwirken können, hätte nicht besser gewählt sein können, und das Thema des Autors, Leiter des Büros der Deutschen Presseagentur (dpa) in Köln, wäre sowieso kaum zu toppen gewesen. In seinem neuen Buch „Griff nach den Sternen“ geht es um die EU, die das größte Friedensprojekt seit fast 80 Jahren ist, welche Persönlichkeiten sie geprägt haben, welche Hindernisse sie überwunden hat und welche Niederlagen sie einstecken musste. Sechs Jahre hat Driessen für das Buch recherchiert, das auf wissenschaftlich belegten Fakten beruht und so locker geschrieben ist, dass es jeder normale Mensch, der sich ein wenig für die Thematik interessiert, mit Spaß, viel Schmunzeln und großem Genuss lesen kann.

Die zahlreich erschienenen Gäste wurden von den Veranstaltern – Kristina Wojcik für die NRW-Vertretung und Eva Johnen als Leiterin der Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens in Brüssel – herzlich begrüßt; beide betonten die enge Verbundenheit beider Regionen, deren gute Zusammenarbeit sich auch bei dieser Gelegenheit zeige. Eva Johnen wies darauf hin, dass es zwischen NRW und Ostbelgien derzeit 94 laufende Projekte gebe, vom Katastrophenschutz bis zur Gesundheitsversorgung.

Dritter Kooperationspartner dieses Abend war der Belgische Rundfunk (BRF), dessen Direktor Alain Kniebs auch die Moderation des Podiums übernahm, auf dem er neben Christoph Driessen auch Carolin Born begrüßen konnte, Korrespondentin des Deutschlandradios in Brüssel. Kniebs stieg sofort in eine spannende Diskussion ein. 350 Millionen Menschen in Europa seien für die anstehende Europawahl wahlberechtigt. Trotzdem sei die Wahlbeteiligung in vielen Ländern gering, obwohl die EU das größte Friedensprojekt sei, dass wir seit 80 Jahren hätten. „Was macht die Geschichte der EU so spannend, obgleich sie so komplex ist?“, fragte er den Autor.

Driessen bezeichnete die EU als das erfolgreichste Friedensprojekt, nach seiner Überzeugung das größte, das es in der europäischen Geschichte je gegeben habe. Allerdings habe man sich daran gewöhnt und betrachte es als etwas Selbstverständliches, aber so sei es natürlich nicht. Über weite Strecken sei die europäische Geschichte eine Aneinanderreihung von Kriegen. Er erinnere sich daran, dass man vor 10 oder 20 Jahren öfter als heute gesagt habe, die EU solle damit aufhören, sich damit zu rechtfertigen, dass sie ein Friedensprojekt sei. Driessen betonte, dass seine Phantasie stets dazu ausgereicht habe, um sich neue Kriege in Europa vorzustellen. Und wie wir durch den russischen Angriffskrieg der Ukraine sehen, sollte er Recht behalten.

Obwohl die EU-Berichterstattung in vielen Redaktionen meist keine Freudensprünge auslöse, ließ Carolin Born keinen Zweifel daran, dass sie ihre Arbeit trotzdem sehr spannend findet. Leicht sei es allerdings nicht, eine komplexe Materie in ein paar Minuten Sendezeit zu erklären. Die Europäische Union stünde den Menschen nicht so nahe, obwohl sie in allen Lebensbereichen durch sie betroffen seien. Spannend an ihrer Tätigkeit als EU-Korrespondentin findet sie nicht zuletzt, wie in Brüssel 27 Mitgliedstaaten zur Entscheidungsfindung zusammenfinden.

Driessens Buch, so hatte Alain Kniebs bereits angekündigt, lese sich wie ein Roman, an manchen Stellen wie ein Thriller, es gebe Passagen zum Verzweifeln, aber auch zum Schmunzeln und zum Lachen. Und dem war auch so. Drei spannende Geschichten hatte der Autor ausgewählt. Der erste Auszug spielte in den fünfziger, der zweite in den sechziger und der dritte dann in den neunziger Jahren.

Es ist mäuschenstill, als Driessen mit seiner Lesung beginnt. Als der Sonderzug des Kanzlers Konrad Adenauer den Bonner Hauptbahnhof am Abend des 5. November 1956, einem Montag, verlässt, herrscht Weltuntergangsstimmung. Die internationale politische Lage ist so angespannt wie noch nie seit 1945. In Ungarn sind sowjetische Truppen dabei, den bürgerlich-demokratischen Volksaufstand niederzuschlagen. Am Suezkanal sind am Morgen nach vorhergehender Bombardierung die ersten Bataillone britische und französische Fallschirmjäger abgesprungen. Driessen berichtet in seinem Buch weiter, wie am Ende die Suezkrise das Thema völlig verdrängte, wegen dessen der Bundeskanzler eigentlich zu Premierminister Guy Mollet nach Paris gereist war – eine deutsch-französische Meinungsverschiedenheit über die künftige europäische Sozialpolitik…

Die Lachmuskeln der Teilnehmer werden strapaziert, als Driessen über den Italienurlaub der Deutschen vorliest, oder im nächsten Auszug über einen 26 Jahre jungen Briten mit auffallend blonden, wild zu Berge stehende Haaren berichtet, der in zerknitterten, schlecht sitzenden Anzügen aufritt, zu den Pressekonferenzen grundsätzlich zu spät kommt und unglaubliche Storys über den Machthunger und die Regelwut der Brüsseler Eurokraten im Daily Telegraph veröffentlicht. „Italienische Gummi-Industrie verstößt mit der Herstellung zu kleiner Kondome gegen EG-Regeln“, hieß eine seiner Schlagzeilen. Dann unterrichtet er seine Leser darüber, das Chips mit Shrimps-Geschmack verboten werde, Schnecken zu Fischen erkläre und Frauen anweise, ihr altes Sexspielzug zurückzubringen, oder dass die Europäische Kommission ihren Amtssitz, das Berlaymontgebäude, in die Luft sprengen wolle. Natürlich wissen alle Zuhörer gleich, dass es sich um Boris Johnson, Großbritanniens ehemaligen Premierminister, handelt.

Nach der Lesung geht es weiter mit der interessanten Diskussion. Driessen, dem es in seinem Buch vorzüglich gelungen ist, den Leser zum Augenzeuge der Geschehnisse zu machen, erklärt, wie ihm das gelungen ist. Sechs Jahre habe er für dieses Buch recherchiert, unzählige Biografien durchwälzt, sehr viele langweilige darunter. Als optimale Quelle nannte er die „diaries“ des einzigen britschen Kommissionspräsidenten Roy Jenkins, der nicht nur ein großartiger Politiker, sondern auch ein großartiger, sehr unterhaltsamer und selbstironischer Schriftsteller gewesen sei. Ein ganz großes Thema ist die deutsch-französische Freundschaft und die Frage, wie es aktuell um sie steht. Dass der Motor ein wenig stottert, darin gebe es keinen Zweifel. Viel habe sich in der deutsch-französischen Beziehung geändert. Auch wenn sie weiter wichtig sei, schaue man derzeit mehr in Richtung Osten, auf das Baltikum, auch wegen des Ukrainekriegs, so die Meinung der Hörfunkkorrespondentin Born. Als die ersten Helden der Europäischen Einigung nennt der Buchautor Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer, ein wichtiges Thema in seinem Buch. Auch Winston Churchill oder Paul-Henri Spaak werden als Visionäre der europäischen Einigung gewürdigt – als den Driessen heute einzig noch Emmanuel Macron sehen würde, dessen Vorstellungen aber auf kaum ein Echo stießen, schon gar nicht aus Berlin. Als einen der wichtigsten historischen Orte sieht Driessen den luxemburgischen Grenzort Schengen, der für offene Grenzen stehe – eine Errungenschaft, die die EU für die Bürger sympathischer mache. Auch die kommenden Europawahlen mit der Gefahr des Rechtsrucks und der Krieg in der Ukraine wurden ins Visier genommen. Trotz der vielen Baustellen, den aktuellen und vergangenen Krisen, bleibt Christoph Driessen optimistisch. Obwohl oft gesagt worden sei, dass Europa scheitern und auseinander driften werde, habe es sich gerade durch Krisen weiterentwickelt. Insofern bleibe er Optimist und sage, „es kommen auch wieder bessere Zeiten für Europa, es geht voran.“

Wer die spannende Veranstaltung nachhören möchte: entweder am Pfingstmontag (20. Mai) um 18.05 Uhr im ersten Hörfunkprogramm des BRF oder als Podcast. Es lohnt sich.

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