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Geschichte der EU – Lehren aus Krisen und Erfahrungen

In seinem anschaulich geschriebenen Buch „Griff nach den Sternen“ zeichnet Christoph Driessen die Entwicklung Europas nach und empfiehlt, die richtigen Lehren daraus für die Zukunft zu ziehen

Von Reinhard Boest

Christoph Driessen war vor fünf Jahren schon einmal “Gast” bei Belgieninfo. Damals haben wir sein Buch über die Geschichte Belgiens vorgestellt, die erste Gesamtdarstellung in deutscher Sprache (https://belgieninfo.net/belgien-am-scheideweg-erste-geschichte-belgiens-auf-deutsch/). Es liegt inzwischen in dritter Auflage vor und ist immer noch eine große Hilfe für alle, die Belgien verstehen wollen. Jetzt hat sich der als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen geborene Journalist, der nach Stationen in Den Haag, London und New York seit vielen Jahren das Büro der Deutschen Presse-Agentur in Köln leitet, an ein Thema gewagt, das es hinsichtlich Komplexität leicht mit Belgien aufnehmen kann. Sein neues Werk heißt “Griff nach den Sternen” mit dem anspruchsvollen Untertitel “Die Geschichte der Europäischen Union”.

Vor der Wahl: eine Geschichtsstunde

Es ist kein Zufall, dass das Buch kurz vor den Europawahlen im kommenden Juni erscheint. Der Verfasser möchte damit nämlich auch einen Beitrag leisten, den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union (EU) ins Bewusstsein zu rufen, was dieses historisch einzigartige Projekt für jede und jeden von ihnen bedeutet – und dass sie mit der Teilnahme an der Europawahl Einfluss auf dessen Gestaltung nehmen können. Denn es ist leider ein Faktum, dass viele Europäer wenig bis nichts von der EU wissen, weder von ihrer Geschichte noch von ihren Akteuren noch von dem, was sie konkret tut.

In vielen Medien kommt die EU oft nur vor, wenn es um wichtige Personalien (wie aktuell die Ambitionen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf eine zweite Amtszeit) oder um ein EU-Gesetz geht, das innenpolitisch für Streit sorgt. Man denke nur an die aktuellen Reizthemen Lieferketten, Verpackungen oder Führerschein. Mangelnde Kenntnisse, aber auch gezielte Desinformation haben seinerzeit dazu beigetragen, dass der Brexit in Großbritannien eine knappe Mehrheit fand. Der Frust über diesen GAU in der Geschichte der EU war für Driessen der Auslöser, dieses Buch zu schreiben.

Die EU: ein Monstrum?

Aber wie soll man sich dem Phänomen EU nähern, das wahlweise als Bürokratiemonster, undurchschaubarer Poliitdschungel, ein von ungewählten Beamten beherrschter Moloch, der sich ungeniert in die innersten Angelegenheiten der Mitgliedstaaten einmischt, oder auch als Ausgeburt eines ungezügelten Kapitalismus dargestellt wird? Die politischen Ränder sind sich in Wenigem einig, aber sehr wohl in ihrem Widerwillen gegen das Projekt der europäischen Integration.

Allerdings läuft auch Kritik aus der politischen “Mitte” an konkreten EU-Maßnahmen – wie aktuell etwa dem “Green Deal”zur Bekämpfung des Klimawandels – Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und die EU und ihre Institutionen zu beschädigen.

Gerade deshalb ist es so wichtig, immer wieder in Erinnerung zu rufen, aus welcher historischen Situation die EU beziehungsweise ihre Vorgänger – die auch als Montanunion bezeichnete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – entstanden sind und welchen – eindrucksvollen – Weg dieses Projekt über mehr als siebzig Jahre bis heute genommen hat.

Geschichte anekdotisch erzählt

Im Unterschied zu den zahlreichen Publikationen, die es zum Thema gibt (wahrscheinlich in allen EU-Amtssprachen), wählt Christoph Driessen einen anderen Weg, von diesem “einzigartigen weltgeschichtlichen Experiment” zu erzählen. In sechs Kapiteln stellt er die historischen Abläufe nicht in “Fließtext” dar. Vielmehr kleidet er die Geschichte in kurze Geschichten, in denen vor allem Personen agieren. Dazwischen streut Driessen Porträts einiger prägender Persönlichkeiten sowie thematische “Stichworte” (etwa zu den EU-Institutionen) ein. Viele historische Fotos lockern die Lektüre auf; am Ende des Buches finden sich eine Zeittafel, ein kommentiertes Literaturverzeichnis und ein Sachregister.

Es ist aufschlussreich zu lesen, wie bereits während des noch tobenden Zweiten Weltkriegs und in den ersten Jahren nach Kriegsende Männer wie der Italiener Altiero Spinelli, der Franzose Jean Monnet oder der Brite Winston Churchill Visionen von einem geeinten Europa entwickelten. Das war zu einer Zeit, als es als völlig undenkbar galt, dass Frankreich und Deutschland jemals in einer Gemeinschaft zusammenarbeiten könnten. Sie hatten schließlich zuvor über Jahrhunderte gegeneinander Krieg geführt und um die Vorherrschaft in Europa gekämpft. Auch in anderen Ländern – wie etwa den Niederlanden, ein Land, das der Autor besonders gut kennt – waren die Widerstände groß, wie Driessen anschaulich beschreibt. Auf der anderen Seite stand das Bestreben, Deutschland einzubinden (zu kontrollieren?), was auch bei Bundeskanzler Konrad Adenauer auf Skepsis stieß.

Die Entscheidung für die Gründung der EGKS, mit der die deutsche und die französische Montanindustrie (damals noch die wichtigsten Industriezweige überhaupt) unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt wurden, erforderte von den handelnden Politikern erheblichen Mut. Ein Elitenprojekt muss also nicht unbedingt etwas Negatives sein, nachdem die europäischen Eliten in der Vergangenheit ihre Völker vor allem in endlose Kriege gestürzt hatten. Das sollten auch diejenigen bedenken, die heute die EU (und oft die Politik überhaupt) als abgehobenes Elitenprojekt beschimpfen.

Der rote Faden: das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich

Das deutsch-französische Verhältnis spielt auch in den folgenden Kapiteln der verständlich geschriebenen Analyse Driessens eine zentrale Rolle. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Entwicklung – bis heute. Der Verfasser zeigt anhand vieler Beispiele, natürlich in kleine Anekdoten verpackt, in denen es häufig “menschelt”, dass sich Deutschland und Frankreich einig sein müssen, wenn in der Europäischen Union etwas vorangehen soll. Und dass eben nichts gelingen kann, wenn sich die beiden nicht einig sind. Das macht er durchgehend an den verschiedenen handelnden “Tandems” deutlich: mit Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer, Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl verbinden sich die wichtigsten Weichenstellungen in der Geschichte der EU.

Ihre Nachfolger Gerhard Schröder, Angela Merkel und Olaf Scholz einerseits sowie Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron andererseits stehen eher für Krisenmanagement – wofür es in deren Amtszeit zugebenermaßen reichlich Anlässe gab. Driessen verschweigt auch nicht die “verpassten Chancen” der jüngsten Gegenwart – ausweichende oder ausbleibende Antworten aus Berlin auf europapolitische Initiaitiven des französischen Präsidenten seit seiner Wahl im Mai 2017, von Angela Merkel wie von Olaf Scholz.

Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), einem zum Glück überwundenen Stolperstein auf dem Weg von der Montanunion zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, gab es in der Anfangszeit der EWG ständig Spannungen zwischen dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle und dem ersten deutschen Kommissionspräsidenten Walter Hallstein. Konflikte gab es auch über den Gemeinsamen Markt für Agrarerzeugnisse (ein zentrales französisches Interesse) und Industrieprodukte (ein deutsches Anliegen).

Auch im Kapitel “Die Entschärfung der deutschen Atombombe” (1985 bis 2002) spielt das deutsch-französische Verhältnis eine entscheidende Rolle: in diese Zeit fallen die Verwirklichung des Binnenmarktes, die deutsche Einheit und die Ablösung der nationalen Währungen – darunter die “deutsche Atombombe”, die D-Mark – durch den Euro. In dieser Phase kam dem persönlichen Verhältnis zwischen Kohl und Mitterrand eine überragende Bedeutung zu. Als Glücksfall erwies sich zudem Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission. Dass alle drei einer Generation angehörten, die den Zweiten Weltkrieg noch aus eigener Erfahrung erlebt hatte, dürfte geholfen haben, derart mutige europapolitische Entscheidungen zu treffen.

Besonders anschaulich schildert Driessen das Verhältnis zu Großbritannien, angefangen von Churchills Plädoyer für ein “Vereintes Europa” (ohne das Vereinigte Königreich), den schweren Weg zur Mitgliedschaft, das Verhalten als Mitglied (mit einem Schwerpunkt auf der Amtszeit von Premierministerin Margaret Thatcher, die bekanntlich vor allem ihr Geld zurück wollte) bis zum Brexit.

Neue Herausforderungen: die Mühen der Ebene

Das letzte Kapitel, das unter der Überschrift “Europa in Aufruhr” die Zeit seit 2003 behandelt und vergleichsweise kurz gehalten ist, lässt noch einmal die historische große Ost-Erweiterung und des mehr oder weniger großen Krisen Revue passieren. Dies gilt zunächst für die Ablehnung der Europäischen Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden, dann für die Banken- und Eurokrise 2009, die Kriege in Afghanistan und Syrien, die massive Flüchtlingsströme nach Europa verursachen, die Corona-Pandemie und schließlich für den russischen Überfall auf die Ukraine. Alle Krisen führten zu massiven – und zum Teil bis heute anhaltenden – Spannungen innerhalb der EU, bei denen leider auch schnell wieder nationale Reflexe und Ressentiments hochkamen und zum Teil von bestimmten politischen Lagern auch befeuert wurden.

Die weitgehende (und letztlich nutzlose) Schließung der Grenzen zu Beginn der Corona-Pandemie ließ jeden spüren, wie schnell vermeintlich selbstverständliche Freiheiten wieder verschwinden können. Besonders drastisch macht Driessen das am Beispiel des Brexits deutlich. Die Erfahrungen, die die Briten mit und seit dem Austritt gemacht hätten, seien für die anderen Mitgliedstaaten ein abschreckendes Beispiel und hätten den Zusammenhalt eher gestärkt. Bedrohungen von außen – sei es von einem aggressiven Russland, dem Systemrivalen China oder in der Zukunft vielleicht wieder einem US-Präsidenten Donald Trump – täten ein Übriges.

Darüber hinaus sollte eigentlich jedem klar sein, dass nationale Alleingänge etwa beim Umgang mit dem Klimawandel, dem anhaltenden weltweiten Migationsdruck, der inneren und äußeren Sicherheit, der Handelspolitik, der Regulierung der großen Internetkonzerne oder der künstlichen Intelligenz aussichtslos sind. Das gilt selbst für Mitgliedstaaten, die sich für “groß” halten. Dass die Mühen der Ebene in der EU darin bestehen, in der täglichen Gesetzgebungsarbeit für diese Herausforderungen Lösungen zu erarbeiten, kommt in dem Buch etwas zu kurz. Es dauert oft lange, bis eine Einigung gefunden wird, und Kompromisse sind häufig kompliziert. Das führt dann wiederum zu wohlfeiler Kritik an “Bürokratie”. Aber einfache Lösungen gibt es in einer komplexen Welt leider nicht.

Auch in dem kurzen Porträt des Europäischen Parlaments geht es vorrangig um die Tatsache, dass eine maltesische Stimme bei der Wahl so viel mehr zählt als eine deutsche. Das Wahlrecht kann in einer so heterogenen Union nur ein Kompromiss sein. Viel wichtiger ist doch, dass es nicht die Regierungen allein sind, die Entscheidungen in der EU treffen, sondern – einzigartig in der Welt – ein von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewähltes Parlament mitentscheidet, welche Richtung die EU nicht nur in den genannten Bereichen nehmen soll. Ein entscheidender Grund, am 9. Juni zur Wahl zu gehen!

Das Buch endet mit dem Europäischen Rat im Dezember 2023, als es nur durch einen Verfahrenstrick gelang, die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beschließen: eine besondere Form des “leeren Stuhls” (diesmal nicht Frankreichs, wie vor 60 Jahren, sondern Ungarns). Driessen sieht das als weiteren Anlass, zu einer Reform der Entscheidungsverfahren zu kommen. Er hat aber selbst Zweifel daran, ob es dazu in naher Zukunft kommen wird. Zuweilen muss man schon zufrieden sein, wenn Mitgliedstaaten akzeptieren, die EU-Gesetze zu befolgen, die sie selbst mitbeschlossen haben.

Nach den Sternen greifen

Nach den Sternen zu greifen, heißt besonders mutig zu sein und hoch hinaus zu wollen. Diesen Mut hatten Politiker über weite Abschnitte der europäischen Integration immer wieder. Heute kann man sich dessen nicht mehr immer so sicher sein. Aber was ist die Alternative? Vor allem aber muss den Bürgerinnen und Bürgern bewusst werden, dass Europa nur funktionieren kann, wenn sie es auch als ihre eigene Angelegenheit ansehen. Bei allen Fehlern oder Kritik an der Regierungspolitik: würde jemand auf den Gedanken kommen, Deutschland oder Frankreich abzuschaffen? Wieso also die EU?

Driessens gibt mit seinem Buch wichtige Anstöße, über geeignete Antworten auf diese Fragen nachzudenken. Er lässt den Leser in unterhaltsamer Form die großen Momente der Geschichte der Europäischen Union – die positiven wie auch die kritischen – hautnah miterleben und verstehen, wie die EU zu dem geworden ist, was sie heute darstellt – und warum man sie braucht. Driessens Fazit lautet, dass das “einzigartige weltgeschichtliche Experiment” wohl im Großen und Ganzen gelungen ist und weitergehen muss.

Christoph Driessen: Griff nach den Sternen – Die Geschichte der Europäischen Union, 2024,

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg; ISBN 978-3-7917-3474-3,

288 Seiten, gebunden, 29,95 Euro; als eBook 23,99 Euro.

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