
Von Reinhard Boest
Die Schaffung eines Raumes der Freizügigkeit, in dem keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen stattfinden, war nicht nur ein Traum der Initiatoren des Schengener Abkommens, sondern ist seit nunmehr über 25 Jahren in den Artikeln 67 und 77 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankertes Recht. Die Freizügigkeit an den Binnengrenzen war aber von Anfang an verknüpft mit einem gemeinsamen Vorgehen zur Sicherung der EU-Außengrenzen und bei den damit zusammenhängenden Politiken, vor allem in den Bereichen Asyl und Migration.
Gemeinsames Regelwerk für die Binnen- und Außengrenzen ist der Schengener Grenzkodex. Schon im Text dieser Verordnung wird der Unterschied deutlich: während in den Artikeln zu den Außengrenzen Kontrollen als selbstverständlich vorausgesetzt und die Verfahren dafür ausformuliert werden, geht es bei den Bestimmungen über die Binnengrenzen umgekehrt nur darum, unter welchen Bedingungen Kontrollen im Personenverkehr zwischen den inzwischen 29 Schengen-Staaten überhaupt noch stattfinden dürfen.
Ein Regelwerk mit Ausnahmebestimmungen
Die heute fast paradiesisch anmutenden Zustände, als innerhalb des Schengen-Raums Reisen ohne Grenzkontrollen überall eine Selbstverständlichkeit war, wurden in den vergangenen Jahren schrittweise in Frage gestellt. Dabei steckt, wie auch die aktuelle Kontroverse (siehe: 40 Jahre Schengen – Belgieninfo) um die verschärften Kontrollen an den deutschen Grenzen zeigt, der Teufel im Detail des Schengen-Regelwerks. Mehrere Änderungen in der Verordnung über die vergangenen Jahre, zuletzt im Juni 2024, haben die Möglichkeiten zu Kontrollen an den Binnengrenzen erweitert, wovon anscheinend zunehmend Gebrauch gemacht wird.
Generell erlaubt der Grenzkodex den Mitgliedstaaten, bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung Kontrollen an ihren Grenzen (wieder) einzuführen. Das ist etwa bei sportlichen Großveranstaltungen regelmäßig der Fall gewesen, wie zuletzt anlässlich der Olympischen Spiele in Paris im vergangenen Jahr. Auch Terroranschläge wie in Paris im November 2015 oder in Brüssel im März 2016 rechtfertigen Kontrollen.
Strikte Bedingungen für zeitlich begrenzte Kontrollen
Da Kontrollen an den Binnengrenzen aber eine Freiheit einschränken, die der Vertrag gewährt, sind diese im Grenzkodex an strikte Bedingungen geknüpft. Nach der Begründung der Verordnung müssen sie eine Ausnahme bleiben. „Grenzkontrollen oder entsprechende Formalitäten, die ausschließlich auf Grund des Überschreitens einer solchen Grenze erfolgen, sollten unterbleiben“, heißt es im Rechtstext.
Kontrollen müssen durch eine „ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ im gesamten Schengener Raum oder in Teilen davon gerechtfertigt sein. Ihre Einführung ist an bestimmte Bedingungen geknüpft – etwa die Abstimmung mit Nachbarstaaten und Anmeldung bei der Europäischen Kommission. Sie müssen zudem zeitlich befristet sein und dürfen nur als letztes Mittel zur Bewältigung eines Problems dienen. Die Frist beträgt in der Regel nicht mehr als sechs Monate und darf höchstens bis auf zwei Jahre verlängert werden, wobei es jeweils wieder einer (neuen) Begründung bedarf.
Überprüfung durch mitgliedstaatliche Gerichte und den Europäischen Gerichtshof
Gerade in der jüngeren Vergangenheit sowie im Zusammenhang mit der Asyl- und Migrationskrise haben mehrere Mitgliedstaaten Kontrollen weit über die zulässigen Fristen hinaus beibehalten. Dazu ist es auch nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und mehrerer nationaler Gerichte gekommen, die im Einzelfall die Rechtswidrigkeit anlassloser Personenkontrollen festgestellt haben. So hat etwa der Bayerische Verwaltungsgerichtshof auf die Klage eines niederländischen Staatsbürgers reagiert, der im Zug an der deutsch-österreichischen Grenze kontrolliert wurde. Das Gericht stellte unter Bezugnahme auf den EuGH fest, dass eine Bedrohungslage Kontrollen nur bis zur EU-rechtlich zulässigen Höchstdauer (das heißt in der Regel zwei Jahre) erlaube. Danach müssten Kontrollen neu begründet werden.
Dieser Aspekt dürfte auch bei dem Fall eine Rolle spielen, der jetzt in Deutschland für Aufsehen (oder Aufregung) sorgt. Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Zurückweisung dreier somalischer Staatsbürger an der Grenze zu Polen durch die Bundespolizei für rechtswidrig erklärt und die Berufung der Bundesregierung auf eine Notlage verworfen. Es ging hier zwar nicht um die Zulässigkeit der Kontrollen, die zum Aufgreifen der betreffenden Personen geführt hatten (dieser Aspekt spielte im Gerichtsverfahren gar keine Rolle). Die Begründung, die von der Bundesregierung angeführt wird, ist allerdings in beiden Fällen die gleiche: die Überforderung des Landes durch eine zu hohe Zahl an Zuwanderern.
Konflikt von Recht und Politik?
Ob dieses Gerichtsverfahren (oder ein anderes) in der nahen Zukunft zu einer Befassung des EuGH führen wird, ist derzeit nicht absehbar. Und ebenso wenig, ob dieser in der Situation eine Notlage nach Artikel 72 AEUV anerkennt, die eine praktisch unbegrenzte Fortsetzung von Grenzkontrollen rechtfertigen kann, zumal diese Belastung schon seit längerem besteht und derzeit die Zahl der Zuwanderer deutlich sinkt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es zu einem Konflikt von Recht und Politik kommt, der „Schengen“ insgesamt in Gefahr auf eine harte Probe stellen könnte.
Die Rolle der Europäischen Kommission als EU-Vertragshüterin
Der für die Innenpolitik zuständige österreichische EU-Kommissar Magnus Brunner sah jetzt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk eine grundsätzliche Gefahr für den Schengenraum nicht; „aber Schengen muss ständig weiterentwickelt werden“, erläuterte er. Bei den Kontrollen komme es jetzt auf eine enge Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Kommission an – ein Vorgehen gegen die deutschen Kontrollen will die Kommission anscheinend gern vermeiden, weil die Auswirkungen kaum absehbar wären. Offenbar setzt Brunner – wie auch viele andere – darauf, dass die im vergangenen Jahr beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) eine Entlastung bei der Zuwanderung bringt: Bessere Verfahren sowie eine gerechtere Verteilung der Lasten und damit auch die Rückkehr zu Reisen ohne Binnengrenzkontrollen.
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