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Der beschwerliche Weg zur belgischen „Arizona“-Koalition

Bart De Wever © N-VA

Von Michael Stabenow

Für die Unterhändler von fünf belgischen Parteien, die sich in der sogenannten Arizona-Koalition zusammenschließen wollen, kommt es zu einer kleinen Verschnaufpause. Vom 5. bis 12. August sollen sie sich ein wenig erholen, ehe es richtig zur Sache geht. So stellt es sich zumindest Bart De Wever vor. Der Vorsitzende der Neu-Flämischen Allianz (N-VA), den König Philippe am 10. Juli mit der Regierungsbildung beauftragt hat, nahm sich zwar kürzlich Zeit für ein erfrischendes Bad in einem kurzzeitig für Schwimmer freigegebenen Antwerpener Hafenbecken. In der kommenden Woche will er jedoch weiter an einem für alle fünf Parteien annehmbaren Kompromisspaket tüfteln.

Das scheint auch dringend geboten, zumal De Wever, wenn man der Darstellung belgischen Medien folgt, die Vorgaben seiner eigenen Partei zum „Leitfaden“ seiner unlängst den Verhandlungsführern der übrigen vier „Arizona“-Parteien übermittelten Vorschläge erhoben haben soll: aus dem französischsprachigen Landesteil die Liberalen (MR) und die zentristische Partei „Les Engagés“ sowie aus Flandern die Christdemokraten (CD&V) und die Sozialisten (Vooruit). Vor allem den Sozialisten, die den linken Flügel einer ansonsten eher nach rechts neigenden Koalition bilden sollen, sind manche von De Wevers Vorstellungen sauer aufgestoßen.

So soll zum Beispiel der Bezug des Arbeitslosengeldes künftig nur noch für maximal zwei Jahre gewährt und darüber hinaus nicht mehr von den Gewerkschaften, sondern staatlichen Stellen ausgezahlt werde. Das ist für Vooruit-Parteichef Conner Rousseau eine Kröte, die er wohl kaum so schlucken möchte. Schließlich stehen am 13. Oktober Kommunalwahlen in Belgien an.

Den heißen Atem der linken Konkurrenz von Grünen und der zuletzt auch in Flandern erstarkten populistischen PVDA/PTB spüren die Sozialisten schon jetzt im Nacken. Auch De Wevers Überlegungen zu Abstrichen an der automatischen Koppelung von Löhnen und Gehältern an die Inflationsrate (Indexierung) oder die geplanten Einschnitte bei Pensionen wären, sollte Rousseau ihnen zustimmen, bei den Kommunalwahlen Wasser auf die Mühlen der linken Konkurrenz.

All dies spricht dafür, dass die Sozialisten versuchen könnten, die Koalitionsverhandlungen über den Termin des 13. Oktober hinauszuzögern. Das würde nicht nur einen Strich durch die Rechnung De Wevers machen, der nur allzu gerne Ende September als Regierungschef eines nach vier Jahren „Vivaldi“-Koalition deutlich mehr nach rechts orientierten Kabinetts vor die Wähler treten möchte. Zeitdruck ist durchaus vorhanden: Die Europäische Kommission erwartet von Belgien bis Ende September klare Vorstellungen, wie das Land die aus dem Ruder gelaufenen Staatsfinanzen wieder auf Kurs bringen und der Haushalt um 28 Milliarden Euro in den kommenden Jahren entlastet werden soll (siehe https://belgieninfo.net/haushaltsdefizit-eu-kommission-leitet-verfahren-gegen-belgien-ein/).

Dass De Wever sich bisher mit seinen den „Arizona“-Verhandlungspartnern übermittelten Vorstellungen offenbar so sehr am eigenen Parteiprogramm orientiert hat, wird aber durchaus auch als taktischer Schachzug des langjährigen Antwerpener Bürgermeisters gewertet. „Die Analyse verschiedener Unterhändler besagt, dass De Wever dieses Dokument als Eröffnungszug geschrieben hat, um letztlich den anderen Parteien weniger entgegenkommen zu müssen“, befindet die flämische Zeitung „Het Nieuwsblad“.

Ob dieses Kalkül, falls es besteht, aufgeht, muss sich allerdings noch erweisen. Für De Wever, der gerne ein Bild von „zwei Demokratien“ in Belgien – mit einem konservativen Flandern und einem linken Wallonien – zeichnet, trifft es sich nun gut, dass der französischsprachige Landesteil bei der jüngsten Wahl durch die Schlappen der lange vorherrschenden Sozialisten (PS) und vor allem der Grünen (Ecolo) einen kräftigen Rechtsruck erlebt hat (siehe https://belgieninfo.net/die-wallonie-bekommt-eine-neue-regierungskoalition-ohne-tabus/).

Vor allem mit dem MR und seinen vor Selbstbewusstsein schier platzenden Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez gibt es wirtschafts- und gesellschaftspolitisch große Übereinstimmungen. Ähnlich wie De Wever ist Bouchez zudem ein begeisterter Anhänger des Ausstiegs aus dem Ausstieg aus der Atomkraft – auch wenn es ein Rätsel bleibt, wie das finanziell klamme Land ihn bewerkstelligen soll (siehe https://belgieninfo.net/engie-bremst-die-energie-ambitionen-der-arizona-koalition/).

Auch die Partei „Les Engagés“ verhält sich aufgeschlossen gegenüber De Wevers wirtschafts- und haushaltspolitischen Planspielen. Wie der MR zeigt sie auch Verständnis dafür, dass die Regionen in der Arbeitsmarktpolitik stärker eigenverantwortlich handeln sollen, auch finanziell. Heikel dürfte es jedoch werden, wenn sich aus Sicht von „Les Engagés“ und MR der Verdacht erhärten sollte, dass De Wever und seine Partei dies als Hebel einsetzen möchte, die Solidaritätsbande zwischen dem nördlichen und südlichen Landesteil zu lockern und die Stellung des belgischen Bundesstaats auszuhöhlen.

Diskret sondiert derzeit der frühere Verteidigungsminister und De Wever-Vertraute Sander Loones (N-VA), ob und wie es zu einer weiteren Staatsreform kommen könnte. Mit dem Vorstellungen einer konföderalen Struktur, wie sie den laut Parteistatut nach wie vor eigentlich einer „Republik Flandern“ verpflichteten NVA-Granden vorschwebt, können nicht nur die französischsprachigen Parteien wenig anfangen. Auch für die flämischen Sozialisten gibt es, ungeachtet des guten persönlichen Drahts zwischen De Wever und Rousseau, wichtigere Anliegen als die schon in der Vergangenheit zermürbenden Verhandlungen über eine Staatsreform.

Aufgeschlossener erscheinen da schon die einst jahrzehntelang in Belgien dominierenden Christdemokraten. Sie sind hinter dem rechtsradikalen Vlaams Belang, der N-VA und Vooruit inzwischen freilich nur noch die viertstärkste Kraft im Norden des Landes. Für die CD&V kommt es allerdings in den Koalitionsgesprächen nicht zuletzt darauf an, bei der Steuerreform, einem zu „Vivaldi“-Zeiten auf Grund gelaufenen Vorhaben von Finanzminister Vincent Van Peteghem (CD&V), ein entscheidendes Stück voranzukommen.

Dass Vooruit-Parteichef Rousseau jetzt angeregt hat, das Unterrichtswesen in öffentliche Hände zu legen und die „freien“, oft katholisch geprägten Schulen abzuschaffen, betrifft auf den ersten Blick zwar nur die Verhandlungen über die flämische Regierung, an der sich N-VA, Vooruit und CD&V beteiligen sollen. Aber Rousseaus Vorstoß hat sicherlich nicht zur Entspannung des Verhältnisses zur CD&V bei den föderalen Koalitionsverhandlungen beigetragen. Auch dass De Wever jetzt den im südlichen Landesteil generell verpönten Punkteführerschein wieder auf den Tisch gelegt hat, dürfte die Stimmung nicht gehoben haben.

Dennoch spricht vieles dafür, dass sich die fünf Parteien letztlich zusammenraufen, Abstriche an ihren Forderungen vornehmen und irgendwann, wohl im Herbst, die neue „Arizona“-Koalition bilden werden. Schon arithmetisch gibt es kaum eine andere Option, auch wenn rein rechnerisch eine Koalition möglich wäre, der statt Vooruit die Liberalen (Open VLD) des bisherigen Premierministers Alexander De Croo angehören würden. Aber nach dem Fiasko der Liberalen bei der Parlamentswahl am 9. Juni erscheint es ausgeschlossen, dass sie in eine Regierung eintreten, die dann gerade einmal über eine hauchdünne Mehrheit von einem Sitz im Parlament verfügen würde.

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