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Das trügerische Bild schwarz-gelb-roter Harmonie

Von Michael Stabenow

Es war ein Bild belgischer Unbeschwertheit. Am 21. Juli, dem Nationalfeiertag, wirkte das Land heiter und geradezu beschwingt. Vor dem Stadtschloss in Brüssel zogen hunderte von Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleuten im Gleichschritt zu Marschmusik am Königspaar und der auf der Ehrentribüne versammelten Prominenz vorbei.

Mit von der Partie war erstmals, ganz in rot gekleidet und mit Hut, Prinzessin Delphine, die unlängst offiziell in den Familienkreis aufgenommene nichteheliche Tochter des ehemaligen Königs Albert II. Auch dessen jüngster Sohn, der in der Vergangenheit auch am Nationalfeiertag schon mal zu Eskapaden neigende Prinz Laurent, benahm sich tadellos.

Höhepunkt war am Abend ein mehrstündiges Konzert im Cinquantennaire-Park, zu dem sich der bald 80 Jahre alte Chansonnier Salvatore Adamo sowie etliche andere einheimische Stars und Sternchen ein Stelldichein gegeben hatten. Unmittelbar vor dem anschließenden Feuerwerk betraten König Philippe und seine Frau Königin Mathilde in Begleitung der Kinder Prinz Gabriël, Prinz Emmanuel und Prinzessin Eléonore die Bühne – lediglich die älteste Tochter, Kronprinzessin Elisabeth, ließ sich nicht blicken.

Das schien jedoch der guten Stimmung im Publikum keinen Abbruch zu tun. Beifall, ja sogar Jubel brandete auf, als das Staatsoberhaupt ein paar Worte an die Menge richtete. Gemessen an vielen seiner öffentlichen Auftritte wirkte König Philippe geradezu ausgelassen. Die kurze Ansprache schloss er in den drei Landessprachen mit folgenden Worten: „Vive la Belgique, leve België, es lebe Belgien!“

Der Bild schwarz-gelb-roter Harmonie am Nationalfeiertag trügt jedoch. Unter der Oberfläche brodelt es gewaltig im Königreich der Flamen, Wallonen und der kleinen deutschsprachigen Minderheit im Osten des Landes. Nicht weiter verwundern kann es, dass die flämischen Oppositionsparteien, die bürgerlich-nationalistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever und der rechtsradikale Vlaams Belang, aber auch die beiderseits der Sprachgrenze präsente linkspopulistische PTB/PVDA kein gutes Haar an der Arbeit der „Vivaldi“-Koalition des liberalen Premierministers Alexander De Croo ließen.

Ein Alarmzeichen für den Regierungschef dürfte jedoch die Art sein, in der führende Vertreter der Koalition die jüngsten Vereinbarungen zur Rentenreform sowie zur Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftreaktoren Doel 3 (bei Antwerpen) und Tihange 3 (zwischen Namur und Lüttich) zerpflückt haben. Kaum überraschen konnte, dass der Vorsitzende der frankophonen Liberalen (MR), Georges-Louis Bouchez, am Tag der Verkündung der von den Grünen in der Koalition nur unter Bauchschmerzen akzeptierten längeren Laufzeiten forsch forderte, auch weitere Kernkraftwerke länger in Betrieb zu halten.

Der nahezu unterbrochen auch auf Twitter mit flotten Sprüchen präsente Bouchez hat sich zuletzt auch den Unmut mancher Parteifreunde zugezogen. Grund war die überraschende Entscheidung, die bekannte Fernsehjournalistin Hadja Lahbib, der bisher keinerlei parteipolitische Nähe zu den Liberalen nachgesagt worden war, zur Nachfolgerin der wegen der schweren Erkrankung ihres Ehemanns zurückgetretenen Außenministerin Sophie Wilmès zu ernennen. Hinter der Personalentscheidung steht offenbar auch das Bemühen, traditionell zu Grünen oder Sozialdemokraten neigende Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund anzusprechen. Kein Zweifel: Die für den 26. Mai 2024 geplante belgische Parlamentswahl wirft ihre Schatten voraus.

Bouchez steht für ein im Land um sich greifendes Phänomen, das mit „Participopposition“ – der Regierung anzugehören und gleichzeitig an ihr herumzumäkeln – umschrieben wird. Die jüngste Vereinbarung zur Rentenreform, die in der Öffentlichkeit, da als zaghaft betrachtet, als Erfolg der französischsprachigen Sozialisten(PS) gewertet wird, sorgte auch für Kritik aus den Reihen der flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) und Sozialisten („Vooruit).

Der renommierte Genter Politikwissenschaftler Carl Devos, der Woche für Woche in einer Kolumne für die flämische Zeitung „Het Laatste Nieuws“ die aktuelle politische Lage analysiert und kommentiert, beklagte, dass die „Participopposition“ weiter um sich greife. „Das Virus ist über die Sprachgrenze gezogen. Bei der Mehrheit ist nun Zynismus hinsichtlich von Vivaldi zu vernehmen“, schrieb Devos in seiner vor dem Sommerurlaub veröffentlichten und „Saisonfinale“ überschriebenen jüngsten Kolumne.

Regierungschef De Croo, der schon in der Vergangenheit Mühe hatte, die sieben Koalitionspartner auf gemeinsamem Kurs zu halten, verteidigt die jüngsten Vereinbarungen. Er ließ jedoch auch keinen Zweifel daran, dass die Rentenvereinbarungen erst erste Schritte seien.

De Croo verwies auch darauf, dass die Verlängerung der Laufzeiten von Doel 4 und Tihange 3 – auf die derzeit gut ein Siebtel der belgischen Stromerzeugung entfällt – um zehn Jahre bis 2036 lediglich in einer Grundsatzvereinbarung mit dem Betreiber Engie festgehalten worden sei. Der Staat wird demnach zur Hälfte Miteigentümer der Reaktoren. Ungeklärt ist freilich, wie hoch die Rechnung für den neu anfallenden Atommüll ausfallen wird und wer in welchem Umfang dafür aufkommen soll. Klarheit darüber soll es Ende des Jahres geben.

Der Premierminister hat zuletzt die Bilanz von knapp zwei Jahren „Vivaldi“-Regierung verteidigt. So lobte er den Umgang mit der Corona-Pandemie sowie die rasch getroffenen Entscheidungen zur Entlastung der durch die extreme Verteuerung der Energieprodukte getroffenen Privathaushalte. Auch die ebenfalls unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine beschlossene Steigerung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung schreibt sich De Croo auf die eigenen „Vivaldi“-Fahnen. Dass es erst 2035, mehr als ein Jahrzehnt später als im Nato-Rahmen 2014 für alle Partner als Zielsetzung genannt, so weit sein sollte, wird dabei in der belgischen Debatte meist nur beiläufig erwähnt.

Mit Blick auf die Mitte Oktober vorgesehene Eröffnung des kommenden parlamentarischen Jahres hat sich De Croo weitere Ziele gesetzt. Kaufkraft sichern, das Steuersystem reformieren, das Haushaltspaket für 2023 schnüren, lauten nur ein paar Stichworte, die noch für Kopfzerbrechen in der Koalition sorgen dürften.

Dass bei De Croo, der stets um Ausgleich in der Koalition bemüht zu sein scheint, manche Nerven blank liegen, zeigte seine Reaktion auf die Kritik der Parteivorsitzenden Sammy Mahdi (CD&V), Conner Rousseau (Vooruit) und Bouchez (MR) an den jüngsten Rentenbeschlüssen. „Wenn Du eine Entscheidung triffst, dann musst Du sie anschließend auch verteidigen. Das ist ein Stück Erwachsensein“, sagte der Regierungschef am Nationalfeiertag mit Seitenhieb auf die drei – vergleichsweise jungen – Parteichefs im flämischen Rundfunksender VRT.

Tröstlich für den Premierminister ist, dass sowohl Bouchez als auch der einflussreiche PS-Vorsitzende Paul Magnette bei aller Kritik an der eigenen Regierung versicherten, sie werde bis zur Parlamentswahl im Mai 2024 halten. Ob dies die Stimmung im Kreis der sieben Koalitionspartner aufhellen wird? Auf vorzeitige Neuwahlen könnten sich laut jüngsten Umfragen als einzige Regierungspartei lediglich die flämischen Sozialisten unter ihrem populären, manche meinen gar populistischen Vorsitzenden Rousseau freuen.

Ob es bei den Wahlen 2024 in Flandern zu einer Mehrheit der offiziell auf Ende des Bundesstaats Belgiens hinarbeitenden Parteien – N-VA und Vlaams Belang – reichen wird, ist noch ungewiss. Sicher scheint jedoch, dass eine Regierungsbildung noch schwerer als nach der Wahl 2019 fallen wird.

Damals vergingen 16 Monate, ehe die – auch unter dem Druck der Pandemie entstandene – „Vivaldi“-Koalition die Arbeit aufnehmen konnte. Der Politologe Devos sieht bis auf weiteres schwarz für die Koalition. „Sollte das neue politische Jahr so beginnen, wie das jetzige endet, dann wird Vivaldi sich selbst in den Graben bugsieren“, schrieb Devos in seiner jüngsten Kolumne. Die Unbeschwertheit des belgischen Nationalfeiertags scheint jedenfalls verflogen zu sein.

 

One Comment

  1. Thomas A. Friedrich

    Exzellente Analyse der dreigeteilten widerstreitenden Parteien u Regionen. Dieses Belgien, das nur eine Nation vorgaukelt am Nationalfeiertag 21. Juli. Meine Einschätzung: es gibt nur einen wahrhaften Belgier Aber der ist leider schon tot: König Boudewijn, der den Föderalstaat schuf
    Seither ist Kulturkampf u Zerissenheit angesagt. Königsfamilie der Kitt, der auseinander driftenden Fliehkräfte ( noch) zusammenhält

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