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Brüsseler Regierungskrise trifft große und kleine Projekte – wohl auch die Metro

© Metro 3

Von Reinhard Boest

Wer kann sie noch hören, die mal ungeduldigen, mal ärgerlichen, zuweilen zynischen, aber zunehmend verzweifelten Kommentare über die seit zehn Monaten blockierte Regierungsbildung in Brüssel? Belgieninfo berichtet regelmäßig über immer neue Anläufe und genauso viele Fehlschläge. Man mag vordergründig denken, dass es doch vielleicht gar nicht so schlimm ist: Metro und Tram fahren doch, und auch die Verwaltung funktioniert leidlich (wenn nicht gerade Streik ist). Stört es da wirklich, dass sich die Brüsseler Politiker in ihren aus Grundsatzpositionen gebauten Wagenburgen so verschanzt haben, dass sie noch nicht einmal über die Probleme gesprochen haben, die den Menschen auf den Nägeln brennen?

Ja, es stört, und zwar gewaltig. Man muss sich nur die Mühe machen hinzuschauen. Bei Menschen, Organisationen und Unternehmen herrscht große Verunsicherung, ob sie in Zukunft noch auf politische Rahmenbedingungen oder Unterstützung zählen können, wie es sie bisher gab. Es ist kein Geheimnis, dass die enorme Verschuldung der Region drastische Einsparungen und Umschichtungen im Haushalt erfordern wird – über die aber nur eine “vollwertige” Regierung entscheiden kann. Solange die auf sich warten lässt, kann niemand verlässlich planen, der von diesen Entscheidungen abhängig ist.

Die Tageszeitung “Le Soir” hat eine Reihe solcher Fälle zusammengetragen. Dazu gehören große Projekte wie der soziale Wohnungsbau oder die – eigentlich – dringend erforderliche Renovierung des Belliard-Straßentunnels. Aber es geht auch um viele vermeintlich kleine Projekte: Zahlreiche Hilfsorganisationen wissen nicht, ob sie Programme etwa zur Drogenhilfe fortsetzen können. Krankenhäuser müssen Investitionspläne auf Eis legen. Aufträge an Dachdecker und andere Bauunternehmen hängen davon ab, ob es für Maßnahmen zur energetischen Sanierung künftig noch Prämien gibt. Auch die “Zinneke-Parade”, ein Integrationsprojekt, das über 25 Jahre zu einer Brüsseler Institution geworden ist, fürchtet um ihre Zuschüsse.

Und es gibt das “Riesenprojekt”, das allein den Haushalt der Region aufzufressen scheint: die Metrolinie 3, über die Belgieninfo regelmäßig berichtet hat. Dazu hat sich jetzt auch der föderale Innenminister Bernard Quintin zu Wort gemeldet und ein Moratorium “für fünf bis zehn Jahre” gefordert; so lange werde man brauchen, um den Haushalt der Region in Ordnung zu bringen. Der liberale Minister ist nämlich nicht nur für die geplante Reform der Polizei in Brüssel zuständig, sondern auch für Beliris, die seit 30 Jahren bestehende Einrichtung der föderalen Regierung für die Unterstützung von Infrastrukturprojekten in der belgischen Hauptstadt.

Beliris unterstützt nicht nur Baumaßnahmen wie die Renovierung des Musikkonservatoriums, des Schwimmbads von Ixelles oder die Umgestaltung des Rond-Point Schuman im Europaviertel, sondern trägt auch zum Projekt Metro 3 bei. Quintin betont, dass Beliris seinen Teil geleistet habe und sich an den geschätzten Mehrkosten von 4,5 Milliarden Euro nicht beteiligen werde.

Auch der Brüsseler Chef der Zentrumspartei “Les Engagés”, Christophe De Beukelaer, ließ in einem Interview mit dem Magazin “BRUZZ” durchblicken, dass man sich auf ein Moratorium einstellen müsse. Selbst für diejenigen, die das Projekt weiter für notwendig halten, dürfte am Ende die derzeit unlösbare Finanzierungsfrage den Ausschlag geben. Damit wird wohl zumindest der Abschnitt zwischen dem Nordbahnhof und der geplanten Endstation Bordet im Brüsseler Norden, für den bisher nur wenige Vorbereitungsarbeiten realisiert worden sind, auf absehbare Zeit ruhen.

Aber was bedeutet das für die Teile der neuen Linie, die schon “in Arbeit” sind? Die Umbauten, etwa an der südlichen Endstation “Albert”, sind weitgehend abgeschlossen. Dort ist ein Umsteigebahnhof zwischen der neuen Metrolinie und der Tram entstanden. Die neue Station “Toots Thielemans” in der Rue de Stalingrad ist im Rohbau fast fertig. Die fehlenden 100 Meter bis zum Anschluss an den bestehenden Tunnel unter dem Boulevard Anneessens haben sich allerdings zum Desaster entwickelt. Die für die Unterfahrung des Palais du Midi vorgesehene Technik hat sich als undurchführbar erwiesen. Die jetzt erforderliche Entkernung des Gebäudes führt zu einer Kostenexplosion und einer Verzögerung um mehrere Jahre. Auch hier wirkt sich das Fehlen einer Regierung aus: sie wird etwa für erforderliche Baugenehmigungen gebraucht. Anwohner, Händler und Restaurantbetreiber in der Rue de Stalingrad leben seit über fünf Jahren auf einer Baustelle, und es ist kein Ende absehbar. Die Metro zwischen Albert und dem Nordbahnhof sollte eigentlich in diesem Jahr fertig sein. Jetzt rechnet man mit 2032 – frühestens!

Und was bekommt man? Einen Metro-Inselbetrieb ohne wirklichen Anschluss an das übrige Metronetz (mit entsprechenden Folgen für den Austausch und die Wartung der Züge). Die Züge der Tram 55, die mit der Metro ersetzt werden soll, bleiben überfüllt und stecken im Straßenverkehr in Schaerbeek und Evere fest. Und die Nutzer aus dem Norden und dem Süden der Stadt mit dem Ziel Zentrum müssen auf unabsehbare Zeit an der Station Albert oder am Nordbahnhof von der Tram in die neue Metro umsteigen. Am Ende könnten sich diejenigen bestätigt sehen, die von Anfang an statt der “richtigen” Metro einen Ausbau des “Prémétro”-Netzes propagiert hatten.

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