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Belgiens Agenda 2010

Von Rainer Lütkehus.

Belgien tut endlich, was die internationale Organisation OECD und die EU-Kommission jahrelang von der Regierung ihm gefordert hatten: Es verlagert die Abgaben, die auf dem Faktor Arbeit lasten, hin zum Konsum und umweltschädlichen Aktivitäten. Die Reform dürfte gut sein für die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Wirtschaft, macht sie doch Arbeit damit in Belgien billiger. Indes ist sie nicht so arbeitgeberfreundlich wie die Reform, die der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2003 unter dem Titel „Agenda 2010“ durchgeführt hatte.

Worauf sich die liberal-konservative Föderalregierung vor Ende der Sommerpause im Hauruckverfahren geeinigt hatte, dafür gibt es im dreisprachigen Belgien nur ein englisches Wort: „Tax shift“. Die Regierung ist aus dem Urlaub zurück und das Förderalparlament beschäftigt sich im Herbst mit diesem Steuer-Reformpaket. Eine Maßnahme ist schon seit Anfang September in Kraft. Es gilt wieder der normale Mehrwertssteuersatz von 21 Prozent auf den privaten Stromverbrauch. Sie, liebe Belgieninfo-Leser, werden es demnächst in ihrer Stromrechnung merken. Von der Vorgängerregierung war der Satz vor zwei Jahren auf 6 Prozent gesenkt worden.

“Tax shift”

Im Zentrum des „Tax shift“ steht jedoch die Absenkung des Arbeitgeberanteils an der Sozialversicherung von 33 Prozent der Brutto-Lohnsumme auf 25 Prozent. Die Brutto-Lohnsumme ist die Summe von Löhnen und Gehältern zuzüglich aller Zuschläge und Zulagen, wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Anders als in Deutschland, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu jeweils gleichen Teilen Beiträge an die Träger der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung abführen, zahlen die Arbeitgeber in Belgien einen Globalbeitrag zur sozialen Sicherung von eben 33 Prozent der Lohnsumme; die Arbeitnehmer rund 16 Prozent, also die Hälfte. Ihr Anteil soll nicht verringert werden. Das einzige Zugeständnis, das ihnen die Regierung Ende August machte, war eine Abschwächung der Steuerprogression. Der Plan ist, den Einkommenssteuersatz von 30 Prozent abzuschaffen. Damit sollen Geringverdienende 100 Euro monatlich mehr im Portemonnaie haben.

Anders als in Deutschland wird in Belgien kein Formeltarif, sondern wie in Österreich, ein treppenförmiger Stufenbetragstarif angewandt. Dabei ist für jede Stufe ein fester, aber von Stufe zu Stufe ansteigender Steuersatz festgelegt. Es gibt in Belgien derzeit fünf Steuersätze: 25 Prozent (Einkommen bis 8710 Euro), 30 Prozent (8710 Euro bis 12.400 Euro), 40 Prozent (12.400 Euro bis 20.660 Euro), 45 Prozent (ab 20.660 Euro) und 50 Prozent (mehr als 37.870 Euro). Bemessungsgrundlage ist das Bruttoeinkommen nach Abzug der Freibeträge, Werbungskosten und Sozialbeiträge.

Diese Beträge werden in Belgien jedes Jahr der Inflation angepasst. Bei dieser “Indexierung” ist die Inflationsrate maßgebend, die ein Jahr vor der Steuerveranlagung gemessen wurde – beispielsweise für das Veranlagungsjahr 2016 die Inflationsrate 2015. Die Beträge werden gesetzlich festgelegt.

Belgiens Sonderweg

Eine heilige Kuh, die sich keine Regierung zu schlachten traute, ist das Lohnindexierungssystem. Fast alles wird im Königreich automatisch der Inflation angepasst: Löhne, Renten, Arbeitslosengeld, Steuern, Freibeträge, Bahntickets, Briefmarken oder Versicherungspolicen, alle werden „indexiert“. Der automatische Indexierungsmechanismus ist ein Unikum aus den 70er Jahren. Neben Belgien wendet ihn nur noch Luxemburg an. Die seit einem Jahr amtierende belgische Regierung setzte die Lohnindexierung bereits bis 2017 außer Kraft. „Index-Sprung“ heißt das in Belgien.

Die Arbeitnehmer haben also das Nachsehen. Denn die Verbrauchsteuern auf Alkohol, Tabak und Diesel steigen. Überdies wird eine Abgabe auf Süßgetränke eingeführt. Anders als die Löhne dürfen die Mieten weiterhin indexiert werden. Deshalb haben die Gewerkschaften den Reformvorhaben der Regierung den Kampf angesagt. Sie halten den „Tax Shift“ für sozial ungerecht. Man hätte Mieteinnahmen besteuern, eine Vermögenssteuer („Reichensteuer“) einführen und die Besteuerung von Firmenwagen erhöhen sollen, argumentieren sie. Ein heißer Herbst mit vielen Streiks steht Belgien bevor.

Für die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Wirtschaft ist die Reform wohl notwendig. Das zeigt ein Arbeitskostenvergleich des Kölner Wirtschaftsforschungsinstituts IW. Demnach kostete eine Stunde Arbeit in der Industrie 2012 in Belgien rund 42 Euro, in Deutschland 37 Euro und in Österreich nur noch 33 Euro. Arbeiten ist eben in Belgien zu teuer.

Eine Reform wie sie einst Bundeskanzler Schröder in Deutschland durchgeführt hat, ist das „Tax Shift“ allerdings nicht. Denn das belgische Sozialsystem bleibt, abgesehen von einigen kleinen Verschärfungen für Arbeitslose, wie es ist. Ein Hartz IV wird es auf absehbare Zeit in Belgien nicht geben. Das aber hätte den belgischen Staatshaushalt entlasten können. Immerhin machten 2014 die Sozialleistungen in Belgien 17,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in Deutschland 15,5 Prozent (Quelle Eurostat).

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