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Am Ende doch Neuwahlen als Ausweg aus der Brüsseler Krise?

David Leisterh © MR
Frédéric De Gucht © Open Vld

Von Reinhard Boest

Wenn sich die Brüsseler Chefs der frankophonen und der flämischen Liberalen (MR und Open Vld) gemeinsam bei der Tageszeitung „Le Soir“ zum Interview ansagen, darf man auf wichtige Erkenntnisse gefasst sein. Handelt es sich doch um David Leisterh, der als Sieger der Wahl vor nunmehr 15 Monaten gern Ministerpräsident der Region Brüssel-Hauptstadt werden möchte, und Frédéric De Gucht, an dem in den vergangenen Wochen mehrere Kompromissversuche gescheitert sind („Monsieur Nee“).

Im Mittelpunkt des Interviews standen daher natürlich die Fragen, wie mit welchen Partnern eine Regierung zustandekommen kann und ob es angesichts der kritischen Finanzlage der Region sinnvoll sein könnte, sich zunächst auf einen Haushalt zu einigen. Letzteres hatten der Vermittler Yvan Verougstraete von der Zentrumspartei „Les Engagés“ und der Brüsseler PS-Vorsitzende Ahmed Laaouej ins Gespräch gebracht.

Um es vorwegzunehmen: in beiden Fragen gab es eigentlich keine neuen Erkenntnisse. Dabei fällt auf, dass De Gucht als der deutlich kleinere Partner in dem Gespräch das Wort führte. Er bekräftigte seine Forderung, dass die flämischen Nationalisten der N-VA Teil der Regierungskoalition sein müssten. De Gucht ließ aber erkennen, dass er darauf verzichten könne, wenn das Regierungsprogramm das Plazet der (von der N-VA geführten) Föderalregierung habe. Ohne deren Unterstützung ließen sich wichtige Vorhaben, etwa im Bereich der Sicherheit oder der Infrastruktur nämlich nicht umsetzen. Auch mit der flämischen und der wallonischen Regionalregierung müsse es schriftliche Vereinbarungen geben, zum Beispiel zum Ausbau des Brüsseler Autobahnrings.

Leisterh stimmte zu, dass Brüssel angesichts der Lage die Unterstützung der Föderalregierung brauche. Er wollte aber den Eindruck vermeiden, eine Brüsseler Regierung brauche das „grüne Licht“ von Premierminister Bart De Wever. Als größter Partner einer künftigen Regierung müsse man zwar zu Zugeständnissen bereit sein. Aber man könne nicht sowohl auf die N-VA und die Open Vld verzichten und stattdessen auf die Unterstützung etwa der Liste Fouad Ahidar angewiesen sein.

Einig waren sich beide Politiker in der Ablehnung des Vorschlags, erst einen Haushaltskompromiss zu suchen, notfalls nicht mit allen Partnern, die letztlich für eine Mehrheit gebraucht werden. Damit gebe man der geschäftsführenden Regierung des Sozialisten Rudi Vervoort die Möglichkeit weiterzumachen, obwohl sie kein demokratisches Mandat mehr habe. „Jetzt geht es aber darum, einen klaren Schnitt zu machen mit einer neuen Regierung, die drastische Reformen anpackt, nicht nur kleine Maßnahmen“, so De Gucht. Der Haushalt müsse in drei Jahren, also bis 2028, im Gleichgewicht sein. „Niemand wird sterben, wenn der Preis für das Abonnement bei der Nahverkehrsgesellschaft STIB/MIVB um 12 auf 48 Euro steigt.“ De Gucht nutzt anscheinend selten Busse und Bahnen, sonst müsste er wissen, dass der Preis für eine Monatskarte schon heute 55 Euro beträgt. Auch die Forderung, den Preis für die Müllsäcke deutlich zu erhöhen, wird bei potentiellen Koalitionspartnern nicht auf Begeisterung stoßen.

MR, Open Vld und N-VA stehen sich in sozioökonomischen Fragen, aber auch im Bereich Sicherheit, offensichtlich sehr nahe, wie sich auch beim Auftritt von Bart De Wever beim jüngsten MR-Kongress zeigte. Sie wollen ihre Vorstellungen auch in Brüssel gemeinsam umsetzen. Die Frage ist, ob die frankophonen Liberalen bereit sind, dafür den Status Brüssels als eigenständige Region aufs Spiel zu setzen.

Am Ende des Interviews gab es dann doch noch eine Überraschung: Leisterh brachte als einen möglichen Ausweg aus der anhaltenden Blockade eine Möglichkeit ins Gespräch, die die Verfassung eigentlich ausschließt: Neuwahlen, und das schon in vier Monaten.

Verfassungsexperten halten den dafür vorgeschlagenen Weg für problematisch. Leisterh und De Gucht denken anscheinend an eine auf diesen Fall beschränkte Verfassungsänderung. Dafür bräuchte man „nur“ eine Zweidrittel-Mehrheit in der Kammer und im Senat, aber nicht auch in den Sprachgruppen, wie es eigentlich für alle Statusfragen im komplizierten und austarierten belgischen Föderalsystem gilt. Damit sollte vor allem sichergestellt werden, dass die Flamen mit ihrer Bevölkerungsmehrheit in Belgien die Frankophonen nicht dominieren können. Ein Abweichen von diesen Regeln könnte einen Präzedenzfall schaffen.

Wie dem auch sei, die Hürden sind hoch, und auf jeden Fall braucht man zunächst einmal die Unterstützung der föderalen Regierung. Ob es dazu kommt, ist also völlig offen, genau wie der Zeitplan. In der Zwischenzeit bleibt es beim Stillstand. Niemand weiß im übrigen, ob das Ergebnis einer Neuwahl die Regierungsbildung einfacher macht. Der MR kann nicht sicher sein, erneut als stärkste Partei aus den Wahlen hervorzugehen, und am Ende kann wieder alles von einer Partei abhängen, die gerade zwei Prozent der Stimmen bekommen hat (De Gucht: „aber 10 Prozent bei den niederländischsprachigen Wählern“).

Aus der Sicht der „Le Soir“-Journalisten, die das Interview geführt haben, zeigt der gemeinsame Auftritt der beiden liberalen Politiker, dass man in jeder Hinsicht an einem toten Punkt angekommen sei.

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