
Von Reinhard Boest
Die Schlagzeilen in Belgien werden derzeit beherrscht von dem Streit über den föderalen Haushalt für 2026 und die Frage, ob die Regierung diese Krise überlebt. In diesem Zusammenhang stößt das “Große Barometer” regelmäßig auf Interesse, mit dem die politische Stimmung gemessen wird (Belgieninfo berichtet regelmäßig).
Deutlich weiter hinten fand man vor einigen Tagen die Meldungen über ein anderes Barometer: das “Baromètre de transition”, mit dem seit 2024 die Fortschritte gemessen werden, die Belgien auf dem Weg zur Klimaneutralität im Jahr 2050 macht. Zufall oder nicht: wie im Vorjahr wird das Barometer kurz vor dem Weltklimagipfel (COP 30) veröffentlicht, der gerade im brasilianischen Belèm beginnt.
Die Befunde der neuesten Ausgabe sind ernüchternd. Das Barometer kommt zu dem Schluss, dass zwar seit 1990 die Emissionen in Belgien um 31 Prozent zurückgegangen sind, mit den aktuellen Anstrengungen aber weder die Zwischenziele für 2030 oder 2040 noch die Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen seien. Die neuesten Erkenntnisse passen zu der kritischen Situation, in der sich der Klimaschutz auf der globalen und europäischen Ebene gerade befindet. Fast täglich liest oder hört man von Extremwetter-Ereignissen, die von vielen Fachleuten jedenfalls teilweise dem androgenen Klimawandel zugeschrieben werden (wie einem Tornado im Süden Brasiliens am Tag des Gipfeltreffens in Belèm). Im Vorfeld des Treffens hat die UNO daran erinnert, dass das vor zehn Jahren in Paris vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad oder jedenfalls 2 Grad zu begrenzen, in immer weitere Ferne rückt.
Das Barometer macht jetzt deutlich, dass auch Belgien seine Klimaziele verfehlen wird, wenn es keine deutliche Beschleunigung bei den bisherigen Maßnahmen gibt. Erforderlich sei eine Verdoppelung der Anstrengungen, wie der zuständige Dienst “Klimawandel” des föderalen Umweltministeriums unterstreicht, der das Barometer herausgibt.
Die Fortschritte in Richtung Klimaneutralität wurden anhand von 100 Indikatoren aus sieben Sektoren bewertet: Energie, inländischer und internationaler Verkehr, Gebäude, Industrie, Landwirtschaft und Bodennutzung. Wie schon im vergangenen Jahr sehen die Verfasser der Studie trotz einiger positiver Entwicklungen keinen einzigen Sektor auf einem guten Weg. In den Sektoren Industrie, Energie, Gebäude und Landwirtschaft seien die Fortschritte zu gering. Bei der Bodennutzung und beim internationalen Verkehr gehe die Entwicklung in die falsche Richtung, und beim inländischen Verkehr sei die Tendenz unklar.
Positiv zu vermelden seien die Zuwächse bei den installierten Windkraftanlagen (trotz der erheblichen Abstriche am Projekt der Energieinsel “Prinzessin Elisabeth”) und der Nutzung von Bioenergie, Energieeinsparungen im Gebäudesektor und in der Industrie sowie weniger Emissionen in der chemischen Industrie und in der Tierhaltung. Zur Erreichung der Ziele bis 2050 müssten die Anstrengungen aber zumindest verstetigt werden.
Im – inländischen und internationalen – Verkehr beobachte man eine Zunahme der Emissionen. Ein Umstieg auf weniger klimaschädliche Transportmittel finde aktuell nicht statt, vielmehr steige die Zahl der Kraftfahrzeuge (insgesamt und pro Person) weiter an. Auch im internationalen Verkehr (Straße, Schiff, Flugzeug) steigen die Emissionen – nach einer Pause während der Corona-Krise – wieder an; der Einsatz von erneuerbaren Energien oder die Elektrifizierung sei mangels ausgereifter Techniken hier ohne Bedeutung.
Seit 1990 habe auch durch immer weiter ausgreifende Nutzung die natürliche Kapazität der Böden stark abgenommen, Kohlenstoff aufzunehmen. Diese Entwicklung müsse dringend umgekehrt werden.
Aber die Perspektiven, dass die belgische Klimapolitik ambitionierter wird, sind gering. Der nationale Klima- und Energieplan, den Belgien im Rahmen der EU-Klimapolitik liefern muss, wurde wegen tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regionen mit einjähriger Verspätung erst im Oktober 2025 an die EU-Kommission übermittelt. Die Arizona-Koalition bekennt sich zwar in ihrem Regierungsprogramm zu den Klimazielen der EU, aber die konkreten Instrumente – vor allem gezielte steuerliche Maßnahmen – lassen kein geschlossenes Konzept erkennen. Ein großer Teil der Zuständigkeiten, etwa im Verkehr, bei den Gebäuden oder der Landwirtschaft, liegt überdies bei den Regionen, deren Politik, auch wegen unterschiedlicher politischer Zusammensetzung, nicht immer kongruent sind.
Wie zerbrechlich der belgische Konsens ist, konnte man gerade in der vergangenen Woche beobachten. Bei der Abstimmung über einen Kompromiss im Umweltrat der EU, mit dem die EU-Position zum Klimagipfel festgelegt wurde, musste sich der föderale Umweltminister Jean-Luc Crucke (Les Engagés) der Stimme enthalten. Die flämische Regierung war der Auffassung, dass in der EU-Position der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nicht genügend Gewicht beigemessen wird. Diese Haltung wird innerhalb der föderalen Regierung auch von den frankophonen Liberalen (MR) immer stärker vertreten.
Die “Relativierung” der Klimaziele gewinnt immer mehr an Boden, wie die Wahlergebnisse nicht nur in Belgien zeigen. So haben die EU-Umweltminister gerade das Zwischenziel für 2040 abgeschwächt und den Beginn der nächsten Stufe des Emissionshandels (nämlich die Einbeziehung der Bereiche Verkehr und Gebäude) um ein Jahr auf 2028 verschoben. “Im Kleinen” hat das auch die Region Brüssel-Hauptstadt versucht, als sie vor einigen Monaten die nächste Stufe der Niedrigemissionszone um zwei Jahre aufgeschoben hat (was vom Verfassungsgerichtshof aber gerade gekippt wurde).
Auf jeden Fall werden die Zeitspannen, innerhalb derer die Reduktionsziele erreicht werden müssen, immer kürzer, insbesondere wenn die Politik keine konstante Linie verfolgt.







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