
Von Michael Stabenow und Hanna Penzer (Fotos)
Zehntausende Menschen haben am Dienstag in den Straßen Brüssels ihrem Unmut über die Sparpolitik der seit Februar regierenden Arizona-Koalition freien Lauf gelassen. Während die Polizei von 80000 Demonstrierenden sprach, nannten die Veranstalter Zahlen von bis zu 140000 Teilnehmenden.
Überschattet wurde der vom Nord- zum Südbahnhof durch Innenstadt führende Demonstrationszug ein weiteres Mal von Störern, die sich insbesondere in der Umgebung des Zentralbahnhofs und im angrenzenden Marollen-Viertel Straßenschlachten mit den Ordnungskräften lieferten. Dabei setzte die Polizei Tränengas ein. Regierungsvertreter zeigten sich unbeeindruckt durch die Proteste und ließen keine Zweifel, dass weitere Einsparungen unabdingbar seien.
Anders als geplant fiel die am zweiten Dienstag im Oktober in der Abgeordnetenkammer anlässlich der Eröffnung des parlamentarischen Jahres übliche Rede des Regierungschefs samt Vorstellung des Haushaltplans für das kommende Jahr aus. So war es Premierminister Bart De Wever von der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) nicht gelungen, sich rechtzeitig mit den vier Koalitionspartnern über die angestrebten weiteren Einsparungen im Haushalt in Höhe von insgesamt zehn Milliarden Euro zu verständigen.
Besonders umstritten ist die von De Wever angeregte Aussetzung des sogenannten Index-Sprungs für das kommende Jahr. Das in Europa außer in Luxemburg nur in Belgien praktizierte System der Koppelung von Löhnen und Gehältern an die Inflationsrate sieht vor, dass diese erhöht werden, sobald die Preise real um zwei Prozent oder mehr angestiegen sind. Das Vorhaben, wie bereits 2015 vom Index-Sprung abzusehen, stieß auf Vorbehalte aller vier Koalitionspartner der N-VA: die flämischen Christdemokraten (CD&V) und Sozialisten (Vooruit) sowie die französischsprachigen Liberalen (MR) und die zentristische Partei „Les Engagés“.

Auch De Wevers Überlegungen zur Dämpfung der Kostensteigerung im Gesundheitswesen sowie zu einem einheitlichen ermäßigten Mehrwertsteuersatz stießen auf Vorbehalte. Sollte die beiden Sätze von derzeit 6 und 12 Prozent wegfallen und stattdessen generell 9 Prozent fällig werden, hätte dies eine Verteuerung der Einkäufe von Grundnahrungsmitteln zur Folge.
Die lautstark formulierten Proteste in den Straßen Brüssels richteten sich zwar auch gegen die befürchtete künftige Rotstiftpolitik der Arizona-Politik. Im Vordergrund standen jedoch die bereits im Sommer von der Regierung beschlossenen, nach Überzeugung der Veranstalter dem „sozialen Abbruch“ durch die Arizona-Regierung dienenden Schritte. Dazu gehören vor allem Neuerungen, die für rund ein Drittel der Empfänger von Pensionen mit Einschnitten einhergehen.
Vor allem Frauen, so der Tenor, seien davon betroffen, da sie als Mütter oder Teilzeitarbeitende in mehrfacher Hinsicht betroffen seien: sie könnten nicht lange genug arbeiten, um angemessene Rentenansprüche aufzubauen. Die geplanten Rentenanpassungen sind, wie der Demonstrationszug zeigte, derzeit das große Reizthema der belgischen Politik. Ob in roten (sozialistisch), grünen (christlich) oder blauen (liberal) Jacken gekleidet – bei Gewerkschaftsmitgliedern jeglicher Couleur ist die Wut über die Arizona-Rentenpolitik ungebrochen .
Häufig zu sehen waren runde Schilder mit einer durchgestrichen 67 zu sehen – ein klares Bekenntnis zur Beibehaltung des gesetzlichen Renteneintrittsalter von 65 Jahren. Bei einem Treffen einer Gewerkschaftsdelegation mit dem auch für das Ressort Renten zuständige stellvertretenden Premierminister Jan Jambon (N-VA) zeigte sich am Nachmittag, dass die Arizona-Regierung an der Substanz ihrer Pläne festhalten will. “Der Geist der Reformen wird nicht verändert”, wurde in belgischen Medien ein Sprecher Jambons nach dem Treffen zitiert.
Die gelockerten Auflagen für Nachtarbeit sollen zwar nur für neue abgeschlossene Arbeitsverträge gelten. Die Gewerkschaften befürchten jedoch, dass dies ausgehöhlt werden könnte, indem auch Anpassungen geltender Verträge unter die Neuregelung fallen könnten. Für Unmut sorgt auch der Beschluss, dass das Arbeitslosengeld künftig nicht mehr in der Praxis zeitlich unbegrenzt, sondern nur zwei Jahre gezahlt werden soll. Als unzureichend empfinden die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten demgegenüber die bisher beschlossenen Maßnahmen, mit denen wohlhabendere Bürgerinnen und Bürger durch Besteuerung von Gewinnen auf Wertpapiere – nur etwas – stärker zur Kasse gebeten werden sollen.
Der Vorsitzende des sozialistischen Gewerkschaftsbundes (FGTB/ABVV), Thierry Bodson, stellte weitere Proteste gegen die Sparpolitik der Arizona-Koalition in Aussicht. „Der Kampf gegen die Regierung De Wever ist kein Kampf für einen Tag oder ein Jahr, sondern der einer ganzen Generation. Sie will nicht, dass in sechs Monaten das vernichtet wird, was unsere Eltern und Großeltern über Jahrzehnte aufgebaut haben.“ Der Gewerkschaftsvorsitzende meinte zudem, dass die Koalition weniger stabil sei, als es den Anschein habe. Er werde ihr bei einem Sturz „keine Träne nachweinen“, sagte Bodson. Solcherlei Äußerungen lassen erwarten, dass die innenpolitischen Gräben in Belgien in den kommenden Monaten noch tiefer werden könnten.
Vertreter des Regierungslagers gaben sich demonstrativ gelassen angesichts des deutlich formulierten Unmuts in den Brüsseler Straßen. Sie ließen gleichzeitig aber keinen Zweifel daran, an ihren Sparvorhaben festzuhalten. Das gilt nicht nur für Minister Jambon. So zeigte Außenminister Maxime Prévot von „Les Engagés“, einer der fünf Stellvertreter von Premierminister De Wever, zwar Verständnis für die Proteste. Er stellte jedoch gegenüber im Rundfunksender RTBF klar: „Die Haushaltsschwierigkeiten werden sich nicht in Luft auflösen, weil es diese Demonstration gegeben hat. Und daher müsse wir weiter nicht immer angenehme Entscheidungen treffen – jedoch verantwortungsvoll, um einen Untergang des Schiffs Belgien zu vermeiden.“
Der Unmut in den Straßen Brüssels richtete sich vielfach auch gegen die flämischen Sozialisten, die im Gegensatz zu ihrer – oppositionellen – französischsprachigen Schwesterpartei (PS) der Arizona-Regierung angehören und die bisher beschlossenen Einschnitte mittragen. So wurden an der Fassade der Parteizentrale unter anderem Aufkleber mit der Aufschrift „Vooruit – shame on you“ angebracht.







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