
Von Reinhard Boest
Bis zum 15. September hatte sich Yvan Verougstraete, Vorsitzender der Zentrumspartei „Les Engagés“ und derzeitiger „Vermittler“ bei der seit 15 Monaten dauernden Suche nach einer Regierungsmehrheit in Brüssel, Zeit gegeben, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden (siehe Belgieninfo). Nachdem er zwei Gesprächsrunden mit sämtlichen im Brüsseler Parlament vertretenen Parteien (außer dem Vlaams Belang) abgeschlossen hatte, kam am Dienstagnachmittag die kalte Dusche: der Vorsitzende der flämischen Liberalen (Open Vld) in Brüssel, Frédéric De Gucht, bleibt bei seiner Haltung, dass die flämischen Nationalisten (N-VA) Teil der künftigen Mehrheit sein müssten. Das lehnen auf der frankophonen Seite bekanntlich – nicht nur – die Sozialisten (PS) ab, ohne die es keine Mehrheit gibt.
Mit dem Ansatz, zunächst über Inhalte zu sprechen, sollte eigentlich vermieden werden, dass – wie in den zahlreichen Anläufen zuvor – der Sprachenkonflikt zu einer sofortigen Blockade führt. Die erste Runde war daher insofern ein Erfolg für Verougstraete, als die wichtigsten für eine Mehrheit notwendigen Parteien nicht von vornherein Ablehnung signalisiert haben. Jetzt sieht es danach aus, dass die Initiative, die auch von den flämischen Grünen (Groen) und Sozialisten (Vooruit) unterstützt worden war, ein weiterer Fehlschlag wird. Verougstraete zeigte sich enttäuscht von der Entscheidung De Guchts; dieser fordere, über die Inhalte zu verhandeln, und verweigere sich dann genau diesen Verhandlungen.
Verougstraete hatte nach einer zweiten Sondierungsrunde am Montag eine durchaus ungewöhnliche Konstruktion für eine Koaition vorgeschlagen, die einerseits auf der niederländischsprachigen Seite eine Mehrheit ohne Beteiligung der N-VA vorsieht, zum Ausgleich aber eine paritätische Vertretung beider Sprachgruppen in der Regierung. Bisher stellen die Frankophonen drei Regierungsmitglieder (Ministerpräsident und zwei Minister), die Niederländischsprachigen zwei Minister; die Staatssekretäre (zwei frankophon und einer niederländischsprachig) sind zwar formell nicht Teil der Regierung, ihre Besetzung hilft aber bei der Herstellung eines Proporzes.
Nach dem Vorschlag sollte der MR zugunsten der flämischen Christdemokraten (CD&V) auf einen Posten verzichten; die CD&V wird für eine Mehrheit auf der niederländischsprachigen Seite gebraucht, wenn die N-VA nicht dabei sein soll. Auch die Sozialisten sollen einen Posten abgeben, damit sie nicht stärker als der MR in der Regierung vertreten sind. Dieser soll an einen Vertreter der Zivilgesellschaft „mit Affinität zu Wirtschaftsfragen“ gehen. Im Ergebnis hätten beide Sprachgruppen vier Mitglieder in der Regierung und die sieben Parteien, die die Koalition bilden, je einen Vertreter – unabhängig von ihrem sehr unterschiedlichen Wahlergebnis. Um die N-VA zu „entschädigen“, fordert Verougstraete die flämischen Parteien auf, ihr etwa den Vorsitz im Parlament der flämischen Gemeinschaft zu überlassen.
Dabei hatte die erste Verhandlungsrunde über die inhaltlichen Schwerpunkte einer künftigen Regierung durchaus erfolgversprechend begonnen. In seiner 15-seitigen Vorlage benannte Verougstraeten zwei zentrale Herausforderungen sowie, relativ allgemein gehalten, die zehn wichtigsten Handlungsfelder. Die Konkretisierung sollte mit Bedacht dem künftigen „Regierungsbildner“ überlassen werden, also voraussichtlich David Leisterh, dem Vorsitzenden der frankophonen Liberalen (MR) in Brüssel, die aus der Wahl vom Juni 2024 als stärkste Kraft hervorgegangen waren.
Die zentralen Herausforderungen sind – wenig überraschend – die Sanierung der öffentlichen Finanzen sowie eine Vereinfachung der administrativen und institutionellen Strukturen der Region. Der Haushalt soll bis 2032 ins Gleichgewicht gebracht werden; für die Verwaltung wird nicht weniger als eine „Neugründung“ vorgeschlagen. Sie soll vor allem auf Effizienz ausgerichtet sein und politische Blockaden, wie man sie nicht zum ersten Mal erlebt, in Zukunft ausschließen. Wie dies gelingen soll, bleibt allerdings offen. Der Autonomie der Region sind nämlich durch die belgische Verfassung und das Gründungsgesetz von 1989 enge Grenzen gesetzt; vor jeder Änderung stehen hohe Hürden, insbesondere hinsichtlich der Mehrheitserfordernisse, nicht nur im föderalen Parlament, sondern auch bei den Sprachgemeinschaften. Damit wollten die Niederländischsprachigen ihre Rechte in der offiziell zweisprachigen Region sichern.
Unter der Überschrift „Brüssel, Hauptstadt der Lebensqualität“ führt Verougstraetens Papier zehn politische Prioritäten auf. Ganz oben stehen die Themen Sauberkeit, Umwelt und Sicherheit. Die Müllsammlung soll nru geordnet werden, und „biologisch wertvolle“ Flächen sollen geschützt werden, indem bei der Stadtentwicklung stärker auf Renovierung und Reaktivierung von Leerständen gesetzt wird – ein Signal an die Grünen? Das lange Kapitel zur Sicherheit soll der verbreiteten Verunsicherung angesichts der Kriminalität in Brüssel Rechnung tragen. Angeregt wird ein regionaler Beauftragter zur Bekämpfung der Drogenkriminalität; allerdings findet sich auch die Forderung an den Föderalstaat für eine bessere personelle Ausstattung der Polizei. Hier weiß sich Verougstraete auf einer Linie mit den Bürgermeistern der 19 Brüsseler Gemeinden, die aber ansonsten weiter Widerstand leisten gegen die vom föderalen Innenminister Bernard Quintin auf den Weg gebrachte Fusion der bisher sechs Brüsseler Polizeizonen (siehe Belgieninfo).
Dem Wohnraummangel soll durch steuerliche Erleichterungen für den Erwerb eigenen Wohnraums begegnet werden. Mit einem umfassenden Gebäuderenovierungsprogramm soll das Erreichen der Klimaziele unterstützt werden. Die Aussage zur Zukunft der Metrolinie 3 bleibt vage: die Fortsetzung des südlichen Abschnitts – also zwischen Nordbahnhof und Albert mit der Unterfahrung des Palais du Midi – wird „ins Auge gefasst“, zum Nordabschnitt Richtung Evere wird nichts gesagt. Auch zur Beschäftigungspolitik findet sich außer einer Reform des Brüsseler Arbeitsamts Actiris nichts Konkretes.
Auf dieser Grundlage hatten die anderen sechs Parteien, die der „Les Engagés“-Vorsitzende für eine Mehrheit „eingeplant“ hatte, zumindest offen gezeigt, in der Sache zu verhandeln. Es war erwartet worden, dass es entweder vom PS oder von Open Vld abhängen würde, ob die Blockade überwunden werden kann. Der Brüsseler PS-Chef Ahmed Laaouej hatte am Dienstagmorgen Bereitschaft zu Gesprächen erkennen lassen. Nach der Absage der Open Vld ist jetzt aber alles wieder offen. Die Zukunft hängt also von einer Partei ab, die zwei von 89 Mandaten im Parlament hält.
Einigen Kritikern ging Verougstraetens Vorschlag viel zu weit. Statt die schon bestehende Überrepräsentation der Niederländischsprachigen zu reduzieren, werde sie sogar noch verstärkt. Walter Zinzen, frühere Journalist des flämischen Fernsehens VRT, hat sich in einem Artikel in der Zeitung De Standaard dafür ausgesprochen, das Statut der Region Brüssel-Hauptstadt einschließlich des Sprachenregimes von Grund auf neu zu regeln, damit deren Bevölkerung eine repräsentative, demokratisch legitimierte und vor allem schlagkräftige Regierung wählen könne. Das sei doch eine Aufgabe für einen Staatsmann wie Bart De Wever…







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