Von Reinhard Boest
Béatrice Delvaux, Chefkommentatorin der Tageszeitung “Le Soir”, fragt sich, ob “noch Erwachsene im Raum sind”. Sie hat offenbar Zweifel daran, wenn sie auf die jüngsten Entwicklungen bei der Suche nach einer neuen Brüsseler Regionalregierung schaut. Mehr als sechs Monate nach der Wahl ist man offenbar auf dem Weg von einer Blockade ins komplette Chaos.
Nun mag man einwenden, dass es ja schließlich auch noch keine neue Föderalregierung gibt. Aber für die von Regierungsbildner Bart De Wever angestrebte “Arizona-Koalition” kennt man immerhin die Partner. Und in den sich in die Länge ziehenden Verhandlungen geht es um Kompromisse in der Sache – zugegeben bei teilweise weit auseinander liegenden Positionen etwa in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.
In Brüssel ist man immer noch auf der Stufe davor blockiert: wer soll überhaupt Partner in einer neuen Koalition werden? Sicher war nach den Wahlergebnissen nur, dass es eine andere Mehrheit sein wird. Denn die bisherige Regierung unter dem französischsprachigen Sozialisten Rudi Vervoort, der an der Spitze einer Koalition mit der flämischen Schwesterpartei, den Grünen sowie den flämischen Liberalen und der frankophonen Défi stand, hat ihre Mehrheit deutlich verloren. Stärkste Kraft im Brüsseler Parlament wurden die frankophonen Liberalen (MR), die mit ihrem Spitzenkandidaten David Leisterh nun das Amt des Regierungschefs der Hauptstadtregion für sich beanspruchen.
Kurzer Rückblick: auf der frankophonen Seite hatten sich drei Partner schnell gefunden (MR, PS und Les Engagés). Mit ihrer neuen Mehrheit ärgerten sie gleich schon einmal die Grünen, indem sie die Einführung schärferer Abgasgrenzwerte für Autos in der Stadt um ein Jahr verschoben. Im niederländischsprachigen Kollegium zog sich die Suche nach einer Mehrheit hin – wegen der starken Zersplitterung der Parteien und mehrerer Tabus zwischen ihnen. Als dann eine Mehrheit gefunden war, die auch die zwei Abgeordneten der flämischen Nationalisten N-VA einschloss, scherte auf der anderen Seite der PS aus, weil man eine Koalition mit der N-VA grundsätzlich ausschließt.
Regierungsbildner Leisterh kam daher seit November nicht weiter. Versuche, statt mit dem PS mit den Grünen (Ecolo) und Défi eine Mehrheit auf frankophoner Seite zu erreichen, scheiterten. Ecolo bedankte sich zwar für das Angebot, machte aber erneut klar, dass man nach dem Absturz in der Wählergunst in die Opposition gehen werde. Die neue Défi-Vorsitzende Sophie Rohonyi schien zwar nicht abgeneigt, aber ohne Ecolo hätte es ohnehin nicht für eine Mehrheit gereicht.
Jetzt ist der MR-Parteivorsitzende Georges-Louis Bouchez mit der neuen Idee gekommen, die Blockade auf der regionalen Ebene durch eine Einbeziehung der föderalen Parteivorsitzenden zu überwinden. Er selbst, der PS-Vorsitzende Paul Magnette und Maxime Prévot, Chef der “Engagés”, sollten die Verantwortung übernehmen, damit Brüssel aus der Sackgasse herausfinde. Belgien als Ganzes sei darauf angewiesen, dass seine Hauptstadt funktioniere. Bei den Sozialisten, deren Brüsseler Regionalverband unter Ahmed Laaouej eine starke Position hat, stieß Bouchez auf wenig Resonanz.
Für die französischsprachigen Sozialisten bleibt es dabei: keine Regionalregierung mit der N-VA, deren Ziel es weiterhin sei, die Autonomie der Hauptstadtregion zu beschneiden oder ganz abzuschaffen. Den PS-Vorschlag, der niederländischsprachigen Seite einen zusätzlichen Staatssekretärsposten zu geben, um anstelle der N-VA vielleicht die flämischen Christdemokraten als Koalitionspartner zu gewinnen, lehnt der MR strikt ab. Es ist also absehbar, dass der vermeintliche Coup von Bouchez ein Medienevent bleibt.
In diesem Durcheinander steht Défi, mit Bernard Clerfayt als Minister in der immer noch amtierenden Regierung von Rudi Vervoort vertreten, vor dem endgültigen Zusammenbruch. Bei der Wahl schon mit hohen Verlusten gebeutelt, erklärte jetzt der langjährige Parteivorsitzende (von 1995 bis 2019) und im Oktober als Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Woluwé-Saint-Lambert wiedergewählte Olivier Maingain seinen Austritt. Maingain, eine Gallionsfigur der Frankophonie in Brüssel und den Randgemeinden, warf seiner Nachfolgerin “Verrat” vor, weil sie mit dem MR gemeinsame Sache mache, der wiederum offenbar kein Problem mit einer Verwaltung Brüssels von außen habe. Die Initiative von Bouchez, die nationalen Parteivorsitzenden einzuschalten, laufe genau darauf hinaus: Brüssel unter Kuratell zu stellen. Maingain kämpfte schon als Vorsitzender der “Front der Frankophonen” – so der frühere Name von Défi – gegen einen seiner Meinung zu starken Einfluss der Niederländischsprachigen in Brüssel. Er kündigte an, eine neue Partei zu gründen, was die Zersplitterung der politischen Landschaft in Brüssel weiter vorantreiben dürfte.
Der Eindruck eines Kindergartens, in dem der eine nicht mit dem anderen spielen will, drängt sich immer stärker auf. Le Soir-Chefkommentatorin Delvaux hat mit ihrer Frage, ob es noch Erwachsene im Raum gebe, den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, Es wird aber angesichts der vielfältigen Brüsseler politischen Landschaft, sicher einer Reihe erwachsener – und verantwortungsvoller – Politiker bedürfen, um aus dem Dilemma herauszukommen. Denn die Probleme der Region nehmen mit jedem Tag zu.
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