Von Reinhard Boest
Die Sitzungswochen des Europäischen Parlaments in Brüssel waren von jeher gleichbedeutend mit einem fast unüberschaubaren Angebot an Veranstaltungen der vielen Akteure im Umfeld der europäischen Institutionen. Nach der langen Corona-bedingten Auszeit ist man jetzt endlich wieder bei “normalen” Zustände zurück, und damit haben viele die Qual der Wahl.
Ein Highlight dieser Woche war zweifellos eine Veranstaltung in der Landesvertretung von Baden-Württemberg, die auf den ersten Blick nicht direkt mit der EU zu tun hat. Zusammen mit den Vertretungen von Rheinland-Pfalz, dem Saarland, der französischen Region Grand Est und dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW/OFAJ) hatte “the Länd” (Eigenwerbung Baden-Württemberg) zu einer Mittagsveranstaltung eingeladen, in der an die “Rede an die deutsche Jugend” erinnert wurde, die der französische Präsident Charles de Gaulle im September 1962 im Schloss Ludwigsburg gehalten hat.
Mit dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Reims im Juli 1962 gilt diese Rede als Meilenstein auf dem langen Weg der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Sie führte im Januar 1963 zum Elysée-Vertrag und im Juli 1963 zur Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks.
Das Jubiläum gab den fünf Veranstaltern Gelegenheit, die besondere Rolle zu würdigen, die die Grenzregionen bei der Aussöhnung gespielt haben, aber auch über den aktuellen Stand der Zusammenarbeit zu berichten. DFJW-Generalsekretärin Anne Tallineau leitete ein Podium, bei dem die Regierungsbeauftragten für die Beziehungen zu Frankreich aus dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz, Christine Klos und Werner Schreiner, Staatssekretär Florian Hassler vom Staatsministerium Baden-Württemberg sowie für die Region Grand Est Vizepräsidentin Brigitte Torloting und die Europaabgeordnete Anne Sander insbesondere Projekte schilderten, die den Menschen auf beiden Seiten der Grenze konkrete Vorteile bringen (sollen). Dazu gehören etwa eine gemeinsame Volkshochschule in Wissembourg/Weißenburg (Elsass), die “Strategie France” im Saarland, das seit 2014 an dem Ziel arbeitet, die erste zweisprachige Region zu werden, grüne Energieprojekte auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks Fessenheim oder die Reaktivierung der Bahnstrecke zwischen Freiburg und Colmar.
Allen gemeinsam ist die Erfahrung, wie zerbrechlich die Zusammenarbeit ist: als zu Beginn der Corona-Pandemie plötzlich alle Grenzen geschlossen wurden, stellte das nicht nur Projekte in Frage. Der Arbeitsplatz, der Einkauf oder der Besuch bei Freunden und Verwandten auf der anderen Seite der Grenze war auf einmal keine Selbstverständlichkeit mehr. Eine Erfahrung, die man auch an der Grenze zwischen Belgien und Deutschland und an vielen anderen Grenzen in der EU gemacht hat. Auch heute bleiben unterschiedliche Regeln beiderseits der Grenze, aber alle Akteure bleiben zuversichtlich, dass die Schwierigkeiten überwunden werden. Diese positive Sicht auf die Zusammenarbeit in den Grenzregionen, die man zuweilen auch gegen nationale Regierungen erkämpfen müsse, steht in gewissem Kontrast zu den Beziehungen zwischen Berlin und Paris, in denen es doch im Moment etwas knirscht – was bei der Veranstaltung aber überhaupt nicht zur Sprache kam.
Die eigentlichen Höhepunkte gab es allerdings nach dem Podiumsgespräch. Wurde dort nämlich vor allem über die Jugend gesprochen, kam sie jetzt selbst zu Wort. Für den Jahrestag der Rede de Gaulles hat eine Gruppe von Studierenden aus Frankreich und Deutschland sich die Frage gestellt, wie die Rede wohl heute gehalten würde. Zwei von ihnen – Anna aus Deutschland und Amaury aus Frankreich – trugen das Ergebnis vor.
Es ist eine leidenschaftliche und engagierte Rede an die Jugend Europas. Es gehe um ihre eigene Zukunft – um die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Menschenrechten und Minderheiten, den Kampf gegen Krieg, Hass und Gewalt, den Kampf gegen den Klimawandel und die Bewahrung der Umwelt. Also um alles, was in sechzig Jahren seit de Gaulles Rede in Europa vermeintlich zu einer Selbstverständlichkeit geworden, aber offenbar zunehmend bedroht sei. Darum gelte gerade für die Jugend: nicht warten, sondern handeln!
Den Abschluss bildete der Auftritt der ostbelgischen Poetin Jessy James LaFleur: “Weil ich eine Grenzgängerin bin”. Mit viel Humor und großem Engagement beschrieb sie in drei Sprachen ihr Leben als Grenzgängerin, das schon in ihrem eigenen Land Belgien mit drei Sprachen und drei Kulturen angefangen habe (heute lebt sie in Görlitz).
Wie die beiden Studierenden warnte sie davor, die großartigen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in Europa als selbstverständlich zu sehen: Frieden, offene Grenzen, Freiheit, Freundschaften. Der Krieg sei nicht mehr weit weg in Nahost oder Afrika, sondern zurück in Europa. Hass und Gewalt breiteten sich aus, aber auch Gleichgültigkeit, und man habe den Eindruck, es gebe wieder viele kleine Königreiche in Kampfhaltung. Man müsse endlich aufhören, die Geschichte immer wieder zu kopieren. Aber der Lack der Zivilisation sei sehr dünn. Sie sieht es als ein Privileg an, Grenzgängerin zu sein. Grenzgänger sollten Architekten der europäischen Zukunft sein. Sowohl Anna und Amaury als auch Jessy James LaFleur bekamen lang anhaltenden Beifall des zahlreich erschienenen Publikums.
Für die musikalische Umrahmung sorgte die deutsch-französisch-luxemburgische Jazzband “Groovin High Group” (deren Mitglieder eher der reiferen Jugend zuzurechnen sind) mit Stücken zwischen “molto vivace” und besinnlich – zum Abschluss passend zur Jahreszeit eine jazzige Version von “Stille Nacht”.
© Fotos: Eric Berghen
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