Drei namhafte Wissenschaftler – Christian Behrendt, Pascal Delwit und Dave Sinardet – analysieren in Gesprächen mit Belgieninfo die aktuelle Ausgangslage und die Herausforderungen des Landes nach den Parlamentswahlen
Von Reinhard Boest, Jürgen Klute und Michael Stabenow
Auf mehr als acht Millionen Belgierinnen und Belgien kommt am 9. Juni Schwerstarbeit zu. Sie müssen – im Königreich herrscht Wahlpflicht – nicht nur über die 21 künftigen belgischen Mitglieder des Europäischen Parlaments, sondern auch über die Zusammensetzung des föderalen und der regionalen Parlamente entscheiden.
Die Meinungsumfragen der vergangenen Monate lassen eines sicher erscheinen: die Bildung der nächsten belgischen Regierung dürfte schwierig werden und lange dauern. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Bis zur Bildung der derzeitigen, nicht weniger als sieben Parteien umfassenden „Vivaldi“-Koalition vergingen nach den Wahlen im Mai 2019 mehr als 17 Monate – und ohne den Druck der Corona-Pandemie hätte sich die Regierungsbildung wohl noch länger hingezogen.
An Rechenspielen und Spekulationen über die Zusammensetzung der neuen föderalen Koalition mangelt es nicht. Keine der derzeitigen sieben Regierungsparteien – Sozialdemokraten, Liberale und Grüne beider Landesteile sowie die flämischen Christdemokraten (CD&V) – kann sich auf Grundlage der jüngsten Umfragen große Hoffnungen auf ein glanzvolles Ergebnis machen. Kommt es zu einer „Vivaldi“-Neuauflage, möglicherweise in Form von „Vivaldi 2“, unter Einbeziehung von „Les Engagés“, der frankophonen Schwesterpartei der CD&V? Oder schafft die flämisch-nationalistische N-VA es nach 2014 ein zweites Mal in die föderale Koalitionsregierung? Kommen N-VA und der rechtsradikale, offen nach der Unabhängigkeit strebende Vlaams Belang im Norden des Landes gemeinsam rechnerisch auf eine absolute Mehrheit? Und mit welchen Folgen?
Fragen über Fragen, denen Belgieninfo in Gesprächen mit drei namhaften Wissenschaftlern aus den drei Regionen des Landes nachgegangen ist: dem im wallonischen Lüttich beheimateten deutsch-belgischen Staatsrechtler Christian Behrendt, dem an der Université Libre de Bruxelles (ULB) lehrenden und in der Hauptstadt aufgewachsenen Politikwissenschaftler Pascal Delwit sowie seinem an der flämischen Vrije Universiteit Brussel (VUB) tätigen und aus Antwerpen stammenden Fachkollegen Dave Sinardet.
Die engagierten und aufschlussreichen Darlegungen der Wissenschaftler veröffentlicht Belgieninfo in drei Folgen, beginnend mit dem in Lüttich geführten Interview mit Christian Behrendt. Die Details der Gespräche wollen wir an dieser Stelle den Leserinnen und Lesern noch vorenthalten. Eine Erkenntnis, die in allen drei Gesprächen zum Ausdruck gekommen ist, wollen wir jedoch bereits verraten: Ja, es dürfte lange Verhandlungen nach dem 9.Juni geben. Aber für Untergangsszenarien, gar das Szenario eines Auseinanderbrechens des 1830 entstandenen Königreichs, gibt es derzeit keinen konkreten Anlass.
Die Interviews:
„Es gibt keine Mehrheit für die Spaltung Belgiens und keine Zweidrittelmehrheit für eine Staatsreform“
Gespräch mit dem Staatsrechtler Christian Behrendt. Geboren wurde er 1974 in Bonn, aber seit fast drei Jahrzehnten lebt er in Belgien. Behrendt wurde 2008 Lehrstuhlinhaber an der Universität Lüttich (ULg), lehrt aber auch an der Katholischen Universität Löwen (KUL). Der Jurist hat sich auch als Berater des über die Einhaltung des Rechts wachenden Belgischen Staatsrats einen Namen gemacht und ist seit 2023 deutscher Honorarkonsul in Lüttich.
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“Bart De Wever befindet sich auf einer Gratwanderung“
Gespräch zu den belgischen Parlamentswahlen am 9. Juni mit Pascal Delwit, Politikwissenschaftler an der Université Libre de Bruxelles (ULB) und dem dort ansässigen Centre d´étude pour la vie politique (CEVIPOL).
“Bart De Wever est sur une ligne de crête”
Entretien au sujet des élections belges du 9 juin avec Pascal Delwit, Professeur de sciences politiques à l´Université Libre de Bruxelles (ULB) et membre du Centre d´Etude de la vie politique (CEVIPOL) de l´ULB
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“Die Chancen stehen gut für eine Vivaldi-2-Regieurng, aber dann eine mit der N-VA”
Ein Gespräch mit Dave Sinardet. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Brüssel (VUB), wo er Themen wie „Demokratie und Nationalismus“ und „Belgischer Föderalismus“ lehrt. Er ist auch Professor an der UCLouvain Saint-Louis – Bruxelles, wo er auf Niederländisch unterrichtet. Zu Sinardets Forschungsschwerpunkten gehören Staatsreform, Nationalismus und mehrsprachige Demokratie. Er hat bereits zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zu diesen Themen veröffentlicht. In seiner Dissertation (Universität Antwerpen, 2007) befasste er sich mit der Rolle der Medien in Bezug auf die „communautairen“ Probleme – das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen – der belgischen Gesellschaft. Darüber hinaus ist Dave Sinardet Kolumnist. Seit 2007 veröffentlicht er regelmäßig Kolumnen in belgischen Qualitätszeitungen, derzeit in De Morgen. Er ist einer der wenigen Intellektuellen, die in der öffentlichen Debatte auf beiden Seiten der belgischen Sprachgrenze aktiv sind, mit Vorträgen, Debatten und Medienauftritten. Sinardet wird auch häufig von internationalen Medien als Experte befragt.
“De kans is groot dat er een Vivaldi 2 komt, maar dan met de N-VA.”
Een gesprek met Dave Sinardet. Dave Sinardet is professor Politieke Wetenschappen aan de Vrije Universiteit Brussel, waar hij vakken doceert als ‘Democracy and nationalism’ en ‘Belgisch federalisme’. Tevens is hij professor aan de UCLouvain Saint-Louis – Bruxelles, waar hij in het Nederlands doceert. Zijn onderzoek focust onder meer op staatshervorming, nationalisme en meertalige democratie. Hierover publiceerde hij reeds talrijke wetenschappelijke bijdragen. Zijn doctoraal proefschrift (Universiteit Antwerpen, 2007) focuste op de rol van de media in de Belgische communautaire problematiek. Daarnaast is Dave Sinardet columnist. Sinds 2007 heeft hij achtereenvolgens een vaste column in de verschillende Belgische kwaliteitskranten, dezer dagen is dat in De Morgen. Hij is één van de enige intellectuelen die aan beide kanten van de Belgische taalgrens actief is in het publieke debat, met lezingen, debatten en media-optredens. Door de internationale pers wordt Sinardet eveneens vaak geraadpleegd voor zijn expertise.
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