Von Reinhard Boest
Zwei Jahre nach Annahme des Mobilitätsplans der Region Brüssel (“Good Move”) geht die Umsetzung weiter voran. Besonders spektakulär war Anfang 2021 die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in allen 19 Gemeinden. 50 km/h sind seither nur noch auf den größeren Verkehrsachsen erlaubt (wir berichteten). Die Zielvorgabe ist klar: Brüssel soll bis 2030 eine lebenswerte und sichere Stadt werden, die aus verkehrsberuhigten Stadtvierteln besteht.
Gemeinsam mit den Gemeinden hat die Region begonnen, den Plan auf kommunaler Ebene in konkrete und operationelle Maßnahmen umzusetzen. Dafür mûssen die kommunalen Mobilitätspläne aktualisiert werden, die es in allen Gemeinden seit 2013 gibt. Die Region unterstützt diesen Prozess durch eine neue örtliche Partnerschaft („contrat local de mobilité“).
Ziel ist die Realisierung von großen, z.T. gemeindeübergreifenden verkehrsberuhigten Vierteln, den sogenannten “mailles”; das Gebiet der Region Brüssel ist in 63 solcher Stadtviertel eingeteilt, die nach und nach “abgearbeitet” werden. Die unter Beteiligung der jeweiligen Bevölkerung vereinbarten Maßnahmen sollen die Qualität und die Sicherheit aller Verkehrsformen (Auto, Fahrrad, Fußgänger) sichergestellt werden. Busse und Straßenbahnen sollen gut vorankommen, und der Transitverkehr soll möglichst unattraktiv werden.
Philippe Close: ein “revolutionäres” Projekt
Nach den Stadtteilen Dieleghem (Gemeinden Brüssel, Jette, Ganshoren) und Collignon-Josaphat (Schaerbeek) stellt Brüssel-Stadt, eine der 19 Gemeinden der Hauptstadtregion, jetzt ihren Plan für das Stadtzentrum vor: das als “Pentagon” bzw. “Vijfhoek” bezeichnete Gebiet innerhalb des inneren Straßenrings. Vorausgegangen waren eine Lagebewertung und Konsultationen mit Betroffenen. Bürgermeister Philippe Close bezeichnet das Vorhaben als “revolutionär”. Es gehe ihm um das Wohlergehen aller Nutzer der Stadt – aller derjenigen, die dort wohnen, arbeiten, einkaufen oder die Stadt als Touristen besuchen.
Dabei soll es nach dem Prinzip “STOP” eine Hierarchie der Verkehrsformen geben: Fußgänger, Radfahrer, öffentlicher Verkehr, Privatfahrzeuge. Es habe sich gezeigt, dass es eben nicht für alle Formen nebeneinander genug Platz im öffentlichen Verkehrsraum gebe. Ermutigt fühlt sich die Mehrheit im Rathaus durch den Erfolg der Fußgängerzone auf dem Boulevard Anspach zwischen Place De Brouckère und Place Fontainas, die zu Beginn (2015) heftig kritisiert worden war.
Das neue Konzept will Bewohnbarkeit und Zugänglichkeit miteinander in Einklang bringen. Close weist darauf hin, dass die Einwohnerzahl des Pentagon zwischen 2017 und 2020 um 15.000 auf 54.250 gestiegen sei. Immer mehr Leute wollten in der Stadt leben, aber sie wollten auch atmen können, und sie legten Wert auf Sicherheit im Straßenverkehr. Es gehe nicht darum, den Autofahrer auszuschließen, aber er solle eine vernünftige Wahl treffen. Dabei verweist Close auch auf das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs und das wachsende Radwegenetz als attraktive Alternativen.
Autoverkehr mit dem Ziel Innenstadt bleibe möglich, und man wolle sogar den Weg in die Einkaufsviertel und die Parkhäuser erleichtern. Es sei im Übrigen nicht zutreffend, dass die Leute unbedingt mit ihrem Auto zum Einkaufen fahren wollten: nur 16 Prozent der Kunden nutzten das eigene Auto. Aber der Transitverkehr solle unattraktiv werden, damit dieser Verkehr auf dem Straßenring um das Pentagon bleibe. Darum soll die Fahrt von einem Innenstadtbezirk in einen anderen erschwert werden, etwa durch die Einrichtung von Einbahnstraßen oder die Unterbrechung durch Poller. Wer in ein Stadtviertel einfährt, soll zum nächsten Parkhaus geleitet werden.
In der Innenstadt gibt es derzeit 11.800 Parkplätze im öffentlichen Straßenraum, 11.000 in öffentlichen Parkhäusern und mehr als 50.000 private Stellplätze. Das Parken im Gebiet des Pentagon ist außer für Anwohner und an Sonntagen generell gebührenpflichtig. Zum 1. Mai 2022 werden die Tarife angehoben und sind dann mit denen der Parkhäuser vergleichbar. Dadurch dürfte der Parkplatzsuchverkehr weniger werden. Schwierig wird es allerdings in Vierteln, in denen es keine Parkhäuser gibt (wie den Marollen).
Welche wichtigsten Änderungen sieht der Plan vor?
Künftig soll es nur noch wenige große Straßen geben, die in beide Richtungen befahren werden dürfen; auch für diese gilt wie für alle Straßen innerhalb der Pentagon die Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h (in “Begegnungszonen” sogar nur 20 km/h, siehe Karte). Dazu gehören etwa die Rue de Colonies und in der Verlängerung Cantersteen und Boulevard de l’Empereur bis zur Chapelle des Ursulines, Rue Lombard, Boulevard Pacheco/Berlaimont, Rue de la Régence und Rue Royale, diese aber nur zwischen Place Royale und Rue de la Loi; der obere Teil soll nur für Tram, Bus, Radfahrer und Rettungsdienste zugänglich sein. Teile der Rue Dansaert und Van Artevelde werden Einbahnstraße mit Bus-/Taxi- und Radverkehr in Gegenrichtung. Zur Einbahnstraße werden auch die Place Sainte Catherine und die Rue Stalingrad (nach Abschluss der Arbeiten für die neue Metrolinie 3). Fußgängerzonen sind vorgesehen in der Rue Ravenstein und in dem Viertel um die Place de la Vieille Halle aux Blés. Mehrere Viertel im Westen und Norden des Pentagon sollen nur noch für Anwohner erreichbar sein. Die vollständige Übersicht gibt es auf einer interaktiven Karte.
Wie geht es weiter?
Der Plan soll am 21. Februar offiziell vorgestellt werden. Im März 2022 soll der Plan in Stadtteilversammlungen den Anwohnern und Händlern erläutert werden. Ab Mitte August 2022 werden die Maßnahmen umgesetzt. Von Beginn an soll begleitend analysiert werden, ob die Änderungen angenommen werden und wo es Verbesserungsbedarf gibt. Nach einem Jahr ist dann eine gründliche Evaluierung vorgesehen.
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