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Punktlandung am Nationalfeiertag – Belgien erhält ein „Sommerabkommen“

Flagge von Arizona

Von Michael Stabenow

Versprochen – gehalten. Das gilt zumindest für den Zeitplan auf dem Weg zu dem, was jetzt als „Sommerabkommen“ der Arizona-Regierung mit zum Teil einschneidenden Veränderungen für die Menschen und die Wirtschaft in Belgien in die Geschichte eingehen soll. Nach einer weiteren Nachtsitzung des aus dem Regierungschef und seinen fünf Stellvertretern bestehenden sogenannten Kernkabinetts konnte Premierminister Bart De Wever wenige Stunden vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten zum belgischen Nationalfeiertag, wie von ihm in Aussicht gestellt, Vollzug melden.

Etwas übermüdet wirkend, aber durchaus stolz bezeichnete De Wever die erreichte Vereinbarung als – nach belgischen Maßstäben – bisher einmalig im 21. Jahrhundert. Ein Großteil der jetzt von den Spitzen der Koalitionspartner von De Wevers Neu-Flämischen Allianz (N-VA), den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) und Sozialisten (Vooruit) sowie den französischsprachigen Liberalen (MR) und der sich in der politischen Mitte sehenden Partei „Les Engagés“, war schon grundsätzlich in dem zu Anfang des Jahres ausgehandelten Koalitionsvertrag festgehalten worden. Dennoch steckte der Teufel, wie so oft, im Detail. Nur durch die nicht nur in der belgischen Politik übliche Methode, sachfremde Themen miteinander zu verknüpfen, ließen sich die Positionen der fünf Parteien unter einen Hut bringen.

Über mehrere Aspekte zur Ausführung des Koalitionsvertrags hatten sich die Spitzen der Regierung bereits in den vergangenen Monaten verständigt. Das gilt insbesondere für die Begrenzung des bisher unbefristet gezahlten Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre – eine Kernforderung der durch N-VA und MR gebildeten rechten Flanke der Koalition.

Dafür konnten insbesondere die Sozialisten durchsetzen, dass es künftig in Belgien eine neue Steuer auf Gewinne mit Aktien und anderen Wertpapieren geben soll. Fast umgehend – bezeichnend für das Klima innerhalb der Koalition – kündigte MR-Chef Georges-Louis Bouchez an, die Abschaffung dieser Besteuerung in das MR-Programm für die normalerweise 2029 anstehend Parlamentswahl aufzunehmen.

Mit dem „Sommerabkommen“ wurden insbesondere Änderungen der Steuer- und Rentensysteme, des Arbeitsmarkts sowie des Gesundheitswesens vereinbart. Die Spitzenvertreter billigten auch einen „Nationalen Energie- und Klimaplan“. Darin bekennt sich Belgien erstmals zu dem Ziel, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2040 um mindestens 90 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu verringern. Der Plan soll nun der Europäischen Kommission vorgelegt werden.

Nebenbei ließ der stellvertretende „Les Engagés“-Regierungschef, Außenminister Maxime Prévot, die Bedenken seiner Partei gegen die Pläne zur Zusammenlegung der derzeit sechs Polizeibezirke in der Hauptstadtregion fallen. Er handelte die Zusage aus, die dafür vorgesehenen Gelder zu erhöhen, damit unter der Fusion nicht die Bürgernähe leidet.

Herausstechend – und im Vordergrund der Kritik am „Sommerabkommen“ – sind die Beschlüsse zur Rentenreform. Berufstätige, die über die Vollendung des 66. Lebensjahres hinaus arbeiten, können mit einem Bonus auf ihre Renten rechnen. Die Zuschläge pro länger gearbeitetes Jahr sollen zunächst zwei Prozent betragen und bis 2035 auf fünf Prozent ansteigen. Wer vorzeitig ausscheidet – das heißt derzeit vor dem 66. Lebensjahr -, muss dagegen mit empfindlichen Einbußen rechnen.

Die Sozialisten konnten immerhin durchsetzen, dass Fehlzeiten aufgrund von Krankheit oder Kurzarbeit keinen negativen Einfluss auf die Bemessung der Renten haben. Generell werden dabei jedoch längere Lebensarbeitszeiten zugrundegelegt. Besonders betroffen davon dürften bisher privilegiert behandelte Bedienstete von Bahn und Polizei sein; auch deren bisher deutlich früheres Renteneintritssalter soll schrittweise auf das “allgemeine” Niveau angehoben werden .

Angekündigt wurden nun auch Erleichterungen bei der Einkommenssteuer. Sie sollen sich 2029 auf 4,4 Milliarden belaufen und vor allem Beziehern von niedrigen und mittleren Löhnen und Gehältern zugutekommen. Der jährliche Steuerfreibetrag soll von derzeit knapp 11000 auf 15300 Euro steigen. Wer als Rentner arbeitet, soll ebenfalls weniger Steuern zahlen müssen. Deutlich erhöht werden – von knapp 2000 auf 2650 Euro pro Jahr – soll auch der Steuerfreibetrag für Erstgeborene. Die jetzt beschlossenen steuerlichen Maßnahmen sollen Beschäftigten durchschnittlich 100 Euro mehr im Monat bescheren, wenn sie voll in Kraft sind.

Scharfe Reaktionen aus den Reihen der Opposition haben die Beschlüsse zur Lockerung der Bestimmungen zur Nachtarbeit ausgelöst. In diese Kategorie soll künftig die Zeitspannen zwischen Mitternacht und fünf Uhr fallen. Bisher galt dies – mit entsprechend höherer Vergütung – zwischen 20 und sechs Uhr. Schon wenige Tage vor der abschließenden Nachtsitzung war eine Lockerung der Ladenöffnungszeiten beschlossen worden. Geschäfte können fortan sieben Tage in der Woche und abends bis 21 Uhr – was bisher nur an Freitagen galt – geöffnet sein.

Relativ vage bleiben die Vereinbarungen zum Gesundheitswesen. Einigkeit herrscht über den Grundsatz, die von Ärzten, die nicht den klassischen Tarifvereinbarungen mit den Krankenkassen unterliegen, erhobeneren Zuschläge zu begrenzen. Aber hierüber soll zunächst mit Vertretern der Ärzte verhandelt werden. Bleibt eine Einigung aus, dann soll das Dossier wieder bei der Regierung landen, innerhalb derer nicht alle Partner die Vorstellungen des sozialistischen Gesundheitsministers Frank Vandenbroucke teilen.

Positiv zu den nächtlichen Beschlüssen äußerten sich Vertreter von Arbeitgeberorganisationen. Für den Dachverband VBO/FEB steht fest, dass der „Zug der Reformen nun endgültig in Fahrt gekommen ist“. Die Lockerung der Bestimmungen zum Arbeitsmarkt, nicht zuletzt zur Nachtarbeit, werde es belgischen Unternehmen ermöglichen, im Vergleich zur Konkurrenz in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland wettbewerbsfähiger zu sein, erklärte Verbandschef Pieter Timmermans.

Besonders scharf fiel dagegen die Kritik aus den Reihen der Opposition und der Gewerkschaften aus. Während die Fraktionschefin der linkspopulistischen PTB/PVDA, Sofie Merckx, vom „größten sozialen Rückschritt“ der vergangenen vier Jahrzehnte sprach, verstieg sich die flämische christliche Gewerkschafterin Ann Vermorgen im Hörfunksender VRT sogar zu der Einschätzung, das Kernkabinett habe „80 Jahre sozialen Fortschritt bei der Arbeitszeit und der Nachtarbeit innerhalb einer Nacht weggefegt“. Betroffen seien von den Einschnitten bei den Renten vor allem Frauen.

Passend zu dem einen oder anderen, für den Nationalfeiertag typischen und auch in diesem Jahr niederprasselnden Regenguss („drache nationale“) sprach der Fraktionschef der französischsprachigen Sozialisten (PS), Pierre-Yves Dermagne, nach belgischen Medienberichten von einer „Drache an antisozialen Maßnahmen“. Kritisch äußerten sich auch Vertreter der Grünen. Für den Herbst werden weitere Protestaktionen von Gewerkschaften und Oppositionsgruppen erwartet.

Zu diesem Zeitpunkt dürften sich über der Regierung – nach der Erleichterung im Arizona-Lager über den jüngsten Kompromiss – wieder dunkle Wolken auftürmen. Nicht zuletzt die Nationalbank hat schon davor gewarnt, dass die Staatsfinanzen weiter aus dem Ruder zu laufen drohten und die haushalts- und stabilitätspolitischen EU-Vorgaben klar verfehlt werden dürften.

Die anstehenden Haushaltsberatungen dürften zudem dadurch belastet werden, dass Belgien, bei den Militärhaushalten einer der Nachzügler im Nato-Lager, beträchtlich mehr für den Verteidigungshaushalt aufwenden soll. Dies gilt schon allein, um das 2014 von der Nato vereinbarten Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu erreichen – von dem jüngst auf den Haager Nato-Gipfel vereinbarten Fünf-Prozent-Ziel ganz zu schweigen.

 

 

 

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