Von Reinhard Boest
Es ist eine belgische Besonderheit. Sie könnte, wie der flämische Fernsehsender VRT unlängst berichtet hat, bald der Vergangenheit angehören. Derzeit können französischsprachige Autofahrer, die in Flandern einen Verkehrsverstoß begehen, darauf bestehen, sich vor französischsprachigen statt flämischen Richtern zu verantworten. Politikern der N-VA (flämische Nationalisten), aber auch der Generalstaatsanwältin des Gerichtsbezirks Halle-Vilvoorde im Brüsseler Umland ist dies ein Dorn im Auge. Sie stören sich daran, dass diese Verkehrssünder das Recht haben, ihren Fall an ein französischsprachiges Gericht verweisen zu lassen, und in der Zwischenzeit weiter fahren dürfen, da nur ein Gericht die Fahrerlaubnis entziehen kann.
Wer mit den Besonderheiten des Straßenverkehrsrechts, der Gerichtsorganisation und dem Sprachenregime in der Justiz Belgiens nicht vertraut ist, wird sich fragen, worum es bei diesem Streit eigentlich geht. Wenn in Deutschland (oder Frankreich) ein Verkehrsverstoß begangen wird, ist klar, welche Behörde zuständig ist (und welches Gericht) sowie in welcher Sprache das Verfahren abläuft: dieses richtet sich nach dem Ort des Verstoßes; gegebenenfalls kann der Betroffene einen Dolmetscher in Anspruch nehmen. In Belgien ist das nicht immer so. “Schuld” daran sind auch die verschiedenen Staatsreformen, bei denen fast immer der Sprachenstreit im Hintergrund eine Rolle spielte.
Das Problem reicht weit in die Vergangenheit zurück. Mehr als einhundert Jahre nach seiner Gründung im Jahr 1830 war Französisch de facto noch immer vorherrschende Verwaltungs- und Gerichtssprache im Zentralstaat Belgien. Das galt auch für den niederländischsprachigen Teil des Landes, obwohl schon 1878 im Gesetz “über die Verwendung der flämischen Sprache in Verwaltungsangelegenheiten” die Existenz verschiedener Sprachregionen anerkannt wurde.
In der Realität hatte das Gesetz, das übrigens nur in französischer Sprache verkündet wurde, allenfalls begrenzte Auswirkungen: das Französische blieb vorherrschend, auch weil die niederländischen Sprachkenntnisse der Beamten und Richter begrenzt waren; dafür beriefen sie sich sich auf das in der Verfassung von 1830 verankerte Recht der freien Sprachwahl. Das Gesetz bereitete aber den Weg für verbindlichere Regelungen in den 1920er und 1930er Jahren über die Abgrenzung der Sprachgebiete und die Verwendung der Landessprachen in Verwaltung, Justiz und Armee. Im Jahr 1935 wurde im “Gesetz über den Sprachengebrauch in Gerichtsangelegenheiten” der im Prinzip bis heute in diesem Bereich geltende Rechtsrahmen geschaffen.
In den Gerichtsbezirken Westflandern, Ostflandern, Antwerpen, Löwen und Limburg ist Niederländisch die (einzige) Gerichtssprache, in den Gerichtsbezirken Hennegau, Namur, Luxemburg, Lüttich und Wallonisch-Brabant ist es Französisch. Seit 1988 gibt es für die Gemeinden der Deutschsprachigen Gemeinschaft einen eigenen Gerichtsbezirk (Eupen), in dem die Verfahrenssprache Deutsch ist. Im Gerichtsbezirk Brüssel, der nicht nur das Territorium der Region Brüssel-Hauptstadt umfasst, sondern auch die niederländischsprachigen Kantone Halle und Vilvoorde, ist die Verwendung der französischen oder der niederländische Sprache möglich.
Artikel 14 des Gesetzes sieht daher vor, dass vor den Polizeigerichten das gesamte Verfahren in Französisch, Niederländisch oder Deutsch geführt wird, je nachdem, in welcher Provinz oder in welchem Bezirk diese Gerichte ihren Sitz haben.
Soweit der Grundsatz. Wir sind aber in Belgien, und daher ist es etwas komplizierter, und natürlich hat das etwas mit den Sprachen zu tun. In Strafverfahren – und dazu gehören auch Verfahren wegen Verkehrsübertretungen – kommt es nämlich nicht nur auf den Ort des Verstoßes an. Auch die Sprache des Beschuldigten kann eine Rolle spielen (wenn es sich um eine Amtssprache des Landes handelt).
Artikel 23 des Gesetzes gibt jedem grundsätzlich das Recht, dass sein Verfahren (Ermittlungs- und Gerichtsverfahren) in der Amtssprache geführt wird, die er versteht. Dazu muss bei der Ermittlungsbehörde (Staatsanwaltschaft) oder bei dem befassten Gericht ein entsprechender Antrag gestellt werden. In bestimmten Fällen muss dem Antrag ohne weiteres stattgegeben werden. Das gilt insbesondere in der zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt. Dort kann ein niederländischsprachiger Beschuldigter, der etwa ein Protokoll über ein Delikt im Straßenverkehr in französischer Sprache erhält, verlangen, dass sein Einspruch vor dem niederländischsprachigen Polizeigericht Brüssel verhandelt wird und nicht dem französischsprachigen.
Es gilt aber auch für Beschuldigte, die in einer “Gemeinde mit Spracherleichterungen” wohnen. Diese sind eine Folge der Sprachengrenze, die in Belgien 1963 endgültig gezogen wurde. In diesen Gemeinden werden Dienste nicht nur in der jeweiligen Regionalsprache, sondern zusätzlich in einer anderen Landessprache angeboten, um den Einwohnern entgegenzukommen, die durch die Grenze auf den beiden Seiten zu einer sprachlichen Minderheit geworden sind.
Diese “Fazilitäten-Gemeinden” gibt es nicht nur im Umland von Brüssel in der Provinz Flämisch-Brabant (Erleichterungen für Frankophone), sondern auch entlang der Sprachgrenze im Kanton Mouscron/Moeskroen in der Provinz Hennegau (Erleichterungen für Niederländischsprachige) und der Gemeinde Voeren/Fourons in der Provinz Limburg (Erleichterungen für Frankophone). Fazilitäten-Gemeinden sind auch alle neun Gemeinden im Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft (Erleichterungen für Frankophone) sowie Malmédy und Weismes (Erleichterungen für Deutschsprachige). In allen diesen Gemeinden muss auf Antrag das Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren an das Polizeigericht überwiesen werden, dessen Verkehrssprache die beantragte Sprache ist und das dem Wohnsitz des Beschuldigten am nächsten liegt. Im Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft wird auf Antrag ein Verfahren am selben Gericht in Französisch weitergeführt. Es findet also kein Wechsel des Gerichts statt, da im Bezirk Eupen die Richter das Lizenziat der Rechte in französischer Sprache abgelegt haben müssen.
Liegt keiner der genannten privilegierten Fälle vor, kann ein Gericht trotzdem einem Verweisungsantrag stattgeben. Es kann aber auch entscheiden, diesen “aufgrund der Umstände der Sache” abzulehnen und das Verfahren in seiner Sprache fortzusetzen. Welche Umstände dieses sein können, sagt das Gesetz nicht, und es gibt auch keine Statistik über die Zahl solcher Fälle.
Was bedeutet das nun für einen Führerscheinentzug oder generell für die Verfolgung von Vergehen im Straßenverkehr? Zunächst einmal, dass die Möglichkeit, ein Verfahren an ein Gericht der “eigenen” Sprache verweisen zu lassen, natürlich nicht nur für Wallonen gilt, die in Flandern zum Beispiel zu schnell oder unter Alkoholeinfluss fahren, sondern auch umgekehrt.
Der Entzug des Führerscheins bedarf grundsätzlich einer gerichtlichen Entscheidung. Es gibt nur wenige Fälle, in denen der Führerschein sofort durch die Polizei entzogen werden darf. Das Gesetz über die Straßenverkehrspolizei nennt insbesondere Trunkenheitsfahrten (über 0.8 Promille), Fahren unter Drogeneinfluss, Fahrerflucht, Verschulden eines Unfalls mit erheblichem Personenschaden, Verweigern einer Alkoholkontrolle, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Nutzung eines Radarwarngeräts sowie erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (mindestens 20 Stundenkilometer innerorts, 30 außerorts). Der sofortige Führerscheinentzug bedarf der umgehenden Bestätigung durch die Staatsanwaltschaft und ist in der Regel auf 15 Tage begrenzt. Der Staatsanwalt kann aber eine Verlängerung auf drei Monate beim zuständigen Polizeigericht beantragen.
In der Verhandlung über das begangene Delikt kann ein Gericht den Entzug der Fahrerlaubnis neben einer Freiheits- oder Geldstrafe anordnen. In den meisten vorgenannten Fällen, die zum sofortigen Entzug des Führerscheins führen, ist der Entzug der Fahrerlaubnis durch den Richter im anschließenden Verfahren obligatorisch, und zwar für einen Zeitraum zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Das Gleiche gilt für besonders grobe Verstöße („Delikte vierten Grades“) und Wiederholungstaten. In diesem Fall muss der Betroffene nach Ablauf der Sperrfrist die Fahrerlaubnis völlig neu erwerben.
Gerade für die gravierenden Fälle sieht das Gesetz also Verfahren vor, die sicherstellen sollen, dass der Führerschein sofort entzogen wird und auch vor einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung nicht zurückgegeben wird. Die Kritik aus Flandern geht anscheinend davon aus, dass die Fristen nicht eingehalten werden können, wenn während des Verfahrens ein durch die Sprachenregelung bedingter Wechsel des Gerichts stattfindet. Dazu komme es vor allem, weil die Verfahren vor den frankophonen Gerichten zu lange dauerten.
Eine öffentlich zugängliche Statistik über die Dauer der Verfahren, insbesondere vor den Polizeigerichten, gibt es nicht. Die vom Justizministerium veröffentlichten “Schlüsselzahlen der Justiz” zeigen zwar einen hohen Rückstand anhängiger Verfahren insbesondere beim frankophonen Brüsseler Polizeigericht. Ob dieser allerdings auf Verfahren zurückzuführen ist, die aus einem niederländischsprachigen Bezirk hierher überwiesen worden sind, lässt sich nicht feststellen. Wenn man sieht, wie kompliziert die Besetzung der Gerichte gerade unter Berücksichtigung der verschiedenen linguistischen Anforderungen ist, kann der Grund auch woanders liegen.
Angesichts der Sensibilität des Problems dürfte jedenfalls der Vorstoß wenig Erfolgsaussichten haben, die Verfahren wegen Verkehrsverstößen künftig nur noch in der Sprache des Tatorts zu führen und falls erforderlich einen Dolmetscher hinzuzuziehen. Dafür ist die Gefahr für die Verkehrssicherheit durch nicht (rechtzeitig) entzogene Führerscheine wohl doch nicht groß genug.
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