Von Reinhard Boest
Eine neue Regierung in der Region Brüssel ist noch (lange) nicht in Sicht, die Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, sind dagegen umso sichtbarer. Die desaströse finanzielle Situation steht dabei im Zentrum, und sie wird sich maßgeblich in den meisten Politikbereichen auswirken, um die es in der nahen Zukunft geht.
Dazu wird sicher auch die Wohnungspolitik gehören. Wie relevant dieses Thema ist, zeigt nicht zuletzt der Erfolg der niederländischsprachigen „Liste Fouad Ahidar“ bei den Regionalwahlen im Juni 2024, die den Mangel an bezahlbaren Wohnungen in Brüssel zu einem zentralen Punkt ihres Wahlkampfes gemacht hatte.
Die bisherige Regierung hatte ehrgeizige Ziele formuliert, wie dieser Bereich zu den von der EU vorgegebenen Klimazielen beitragen soll. Der im Mai 2023 verabschiedete “Luft-, Klima- und Energieplan” (PACE) sieht dafür konkrete Maßnahmen vor, die bis zum Jahr 2045 reichen, insbesondere zur energetischen Sanierung des Brüsseler Wohnungsbestands. (siehe https://belgieninfo.net/nicht-nur-wohnungen-und-autos-wie-bruessel-bis-2050-klimaneutral-werden-will/)
Bis 2050 soll danach für alle Gebäude ein energetischer Standard erreicht werden, der mindestens dem Energieeffizienz-Niveau (PEB) der Klasse “C” entspricht, also einem Energieverbrauch von 100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Zur Erinnerung: Die in Brüssel geltende Skala der energetischen Bewertung reicht derzeit von “A” (bis 45 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr) bis “G” (über 346 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr).
Dem bis 2050 angestrebten Niveau entsprechen derzeit in Brüssel im Durchschnitt nur 16 Prozent der Immobilien (18 Prozent der Wohnungen und nur 4,4 Prozent der Einzelhäuser). Von den etwa 580.000 Wohnungen in Brüssel verfügt aktuell nur knapp die Hälfte über ein PEB-Zertifikat. Ab 2033 sollen keine Wohnungen mehr zu den Klassen F und G gehören – das sind heute 45 Prozent des Bestandes. In anderen Städten des Landes wird es kaum anders aussehen.
Ein erheblicher Sanierungsbedarf ist also offensichtlich. Es ist allerdings fraglich, ob die neue Mehrheit an diesem m aßgeblich von den Grünen geprägten ehrgeizigen Plan festhalten wird. Ein anderes Element des Klimaplans, schärfere Kriterien für die Niedrig-Emissionszone (LEZ), ist bekanntlich von einer neuen Mehrheit im Brüsseler Parlament schon gekippt worden.
Jetzt hat eine Gruppe von Architekten und Ingenieuren unter dem Titel “Die Grenzen der PEB” eine Debatte („Carte Blanche“) darüber angestoßen, ob die Effizienz-Klassifizierung (PEB) als alleinige Grundlage für die anstehenden Entscheidungen überhaupt brauchbar ist. Sie bilde einen theoretischen Energiebedarf ab, liefere aber gerade bei den „Energieschleudern“ weit höhere Werte, als es dem tatsächlichen Verbrauch entspreche. Dies sei in mehreren Studien nachgewiesen worden. Das derzeitige System berücksichtige nicht das tatsächliche (Heiz-)Verhalten der Bewohner – das sehr unterschiedlich sein könne – und auch nicht die Zahl der Nutzer einer Wohnung, die von der eingesetzten Heizenergie profitierten.
Außerdem richte sich, so argumentiert die Gruppe weiter, der Energieverbrauch auch nach dem Einkommen, der bei den Bewohnern gerade der „Energieschleudern“ oft sehr gering sei. In anderen Worten: die ärmsten Haushalte, von denen viele gerade in solchen Häusern lebten, hätten nicht genug Geld, um so zu heizen, wie es eigentlich für ein „gesundes Wohnen“ erforderlich sei. Daher führe eine Verbesserung der Energie-Effizienz, etwa durch Isolierungsmaßnahmen, hier auch nicht zu einer Senkung des CO2-Ausstoßes – dem eigentlichen Ziel der Klimapolitik.
Auch unter einem anderen Aspekt sehen die Verfasser des Aufrufes sozialen Sprengstoff: der PEB-Wert spiele eine immer stärkere Rolle bei Mietwohnungen. Das Fehlen eines Zertifikats oder eine schlechte PEB-Klassifizierung wirken sich schon heute auf die Indexierung der Miete aus. Auf mittlere Sicht sollen Wohnungen mit den schlechtesten PEB-Werten nicht mehr vermietet werden dürfen. Damit soll Druck auf die Vermieter ausgeübt werden, die Wohnungen energetisch zu sanieren – mit der Folge einer höheren Miete. Aber die Annahme, die Mieterhöhung werde durch Einsparungen bei den Heizkosten ausgeglichen, gehe nicht auf: denn das gelte nur, so die Gruppe von Architekten und Ingenieuren, wenn die Ausgaben vorher hoch gewesen seien; das sei aber gerade bei armen (oder „energetisch sparsamen“) Haushalten nicht der Fall.
Mit der Fokussierung auf die als „F“ und „G“ eingestuften Wohnungen riskiere man den Verlust gerade der preisgünstigsten Mietwohnungen, und das für einen fraglichen Gewinn beim Klimaschutz. Die betroffenen Mieter hätten kaum Alternativen, da der soziale Wohnungsbau seit langem weit hinter dem Bedarf zurückbleibe. Gleichzeitig würden die privaten Vermieter „vergrault“, die man aber in der aktuellen Situation brauche.
Die Initiaitve soll sich nicht ausdrücklich nicht gegen das Energiesparen richten. So wird dafür plädiert, sich nicht allein auf die – in ihrer Aussagekraft fragliche – PEB-Zertifizierung zu stützen und eine umfassende Isolierung der Bestandsgebäude als einzigen Weg vorzugeben. Auch mit Blick auf die Sozialverträglichkeit müsse es um konkrete Fortschritte hin zu einem „gesunden Wohnen“ gehen, deren Kosten (auch unter dem Aspekt einer staatlichen Förderung) im Verhältnis zu den erreichbaren Ergebnissen stehe. Daher sollten vorrangig Dächer isoliert und die ältesten Heizkessel erneuert werden (was der Klimaplan im Übrigen auch vorsieht).
Diese Maßnahmen, so die Verfasser, seien vernünftig und notwendig und stellten allein schon eine immense Herausforderung dar. Für den Rest gelte: „Es gibt keine kostenlose Renovierung, und sie zahlt sich nicht von selbst.“ Eine Vollisolierung auch der Fassaden sei dagegen teuer, spare im Verhältnis dazu nur wenig Emissionen und habe auch andere Nachteile, etwa das Erscheinungsbild (Denkmalschutz) oder das Risiko feuchter Innenwände.
Die als Bürgerinitiative propagierte Aktion hat seit Mitte Oktober bereits deutlich über 1000 Unterstützer aus ganz Belgien gewonnen. Ziel ist es, auf die Umsetzung der EU-Klimapolitik auf der regionalen Ebene in Brüssel, aber vielleicht auch in Flandern und der Wallonie, einzuwirken. Am 5. Februar ist dazu ein Diskussionsabend im Veranstaltungszentrum DK in der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles vorgesehen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird das Thema in den laufenden Verhandlungen über eine neue Brüsseler Regionalregierung eine wichtige Rolle spielen. Abzuwarten bleibt, ob es dann auch hierzulande eine Heizungsdebatte geben wird, wie sie im vergangenen Jahr in Deutschland so hohe Wellen geschlagen hat.
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