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Die Magie der belgischen Nordseeküste

                         

Rechtzeitig zur diesjährigen Leipziger Buchmesse, die im Zeichen der niederländischsprachigen Literatur steht, erscheinen zwei Übersetzungen von Werken der flämischen Autoren Willem Elsschot und Eric de Kuyper

von Michael Stabenow

Die diesjährige, vom 21. bis 24. März stattfindende Leipziger Buchmasse steht stark im Zeichen der niederländischsprachigen Literatur. Es ist eine gute Gelegenheit, bekannten und weniger bekannten Autoren aus den Niederlanden und Flandern, die aus diesem Anlass zum „Gastland“ verschmolzen wurden, eine Bühne zu bieten und der von den Veranstaltern ausgegebenen Devise „Alles außer flach“ Startseite – alles außer flach (allesausserflach.de) gerecht zu werden.

Die Buchmesse eröffnet aus flämischer Sicht nicht nur die Möglichkeit, einer gestandenen Größe wie Stefan Hertmans und dessen jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Der Aufgang“ erschienenem Werk „De opgang“ zu begegnen (Lesetipp zum 70. Geburtstag von Stefan Hertmans – Belgieninfo) . Auch jüngere flämische Autorinnen wie Lize Spit oder Charlotte Van den Broeck bietet sich in Leipzig die Chance, ihre Werke in deutscher Sprache vorzustellen und bekannter zu machen. Als Randbemerkung sei der Hinweis gestattet, dass zum Beispiel die Prosa des herausragenden flämischen Schriftstellers Tom Lanoye (zum Beispiel Der Kummer von Antwerpen – Der Roman „De Draaischijf“ von Tom Lanoye – Belgieninfo) auch nach der Leipziger Buchmesse einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit bis auf weiteres verborgen bleiben dürfte. Lanoye wurde jetzt mit dem alle drei Jahre durch eine niederländisch-flämische Jury vergebenen prestigeträchtigen “Preis der niederländischen Literatur” ausgezeichnet.

Deutschsprachige Übersetzungen von Werken von Elsschot und de Kuyper

Umso erfreulicher ist es, dass rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse zwei Übersetzungen von zwei nicht mehr ganz taufrischen, aber nach wie vor höchst unterhaltsamen Werken von Willem Elsschot (1882-1960) sowie des 1942 geborenen Eric de Kuyper erschienen sind. In die Sprache Goethes übertragen hat sie Gerd Busse, der 2022 unter dem Titel „Typisch belgisch“ (Buchtipp: „Typisch belgisch. Belgien von A bis Z.“ – Belgieninfo) auf fast 350 Seiten aufschlussreiche Einblicke in die Geschichte und die oft liebenswerten Eigenheiten des Nachbarlandes gegeben hat.

Gerade einmal 112 Seiten umfasst die unter dem Titel „Tschip“ erschienene deutsche Übersetzung des ursprünglich 1934 im niederländischen Original veröffentlichten Romans „Tsijp“. Nur wenig länger – 144 Seiten – ist die 1988 unter dem Titel „Aan Zee“ veröffentlichte und nun auf Deutsch unter „An der See“ firmierende Erzählung de Kuypers.

Beide Werke vermitteln einen Eindruck der Befindlichkeit der belgischen (oder flämischen) Gesellschaft – bei Elsschot kurz vor und bei de Kuyper kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei beiden Autoren spielt eine bis heute in Belgien vorhandene Tradition eine wichtige Rolle: der Hang, soweit es die heimische Haushaltskasse zulässt, mit der Familie immer wieder an die – inzwischen leider weitgehend zubetonierte – belgische Nordseeküste zu ziehen.

Schnörkellose, aber farbige Sprache

Auch in den deutschsprachigen Fassungen der Bücher kommt zudem zum Ausdruck, was beide Autoren verbindet: eine Sprache, die ohne Schnickschnack auskommt, aber farbig und eingängig ist. Beide Werke sind stark autobiographisch geprägt. Das gilt für Frans Laarmans, die Hauptfigur von „Tschip“, ebenso wie für den namenlosen Drei- oder Vierkäsehoch, aus dessen Warte de Kuyper das alljährliche Ritual einer mit Sack und Pack in das Seebad Ostende gezogenen Großfamilie schildert.

Hier enden die Parallelen zwischen „Tschip“ und „An der See“. Dass Busse, wie einem Nachwort zu „Tschip“ zu entnehmen ist, Elsschot „zu den wichtigsten Autoren der zeitgenössischen niederländischsprachigen Literatur“ zählt, mag schon deshalb nicht überraschen, weil er einen Großteil des nur gut 750 Seiten umfassenden Gesamtwerks des Autors auf Deutsch übersetzt hat.

Wie mit dem Katholizimus umgehen?

Aber keine Frage: Bei der Lektüre von „Tschip“ erhält der Leser schnell einen Zugang zur Welt einer bürgerlichen Antwerpener Familie, die sich schon damals dem lange in Flandern übermächtigen Einfluss der katholischen Kirche entzogen hat, aber urplötzlich von der Vergangenheit wieder eingeholt wird. Es geht um die Beziehung der Tochter Adele mit dem aus dem erzkatholischen Polen nach Antwerpen gekommenen Studenten Bennek.
Dem Leser ist es, wie für die Hauptfigur Frans von Elsschot wohl beabsichtigt, lange rätselhaft, ob und wie die Gegensätze zueinander finden werden. Sie werden es, was hier schon preisgegeben sei, am Ende tun – aber auf verschlungenen, manchmal auch süffisant sarkastisch beschriebenen Pfaden. Sie führen nicht nur nach Polen, sondern auch über einen obligatorischen Abstecher zu dem im Seebad Koksijde an der Nordseeküste gelegenen Zweitwohnsitz der Antwerpener Familie  – samt landestypischen kulinarischen Delikatessen.

Dass der Titel „Tschip“ – im Original „Tsijp“ – etwas mit einem Hausspatzen zu tun hat, sei hier ebenfalls verraten. Auch dass, wie Busse in einem Nachwort schreibt, es schon einmal, 1936, eine – umstrittene – deutschsprachige Übersetzung des Buchs durch Else von Hollander-Lossow gegeben hat.

Das sommerliche Ritual an der Nordseeküste

Anders als „Tschip“ spricht der Titel „An der See“ für sich. Das Buch lebt nicht von einer spannenden Handlung, sondern von der messerscharfen Beobachtung und Beschreibung des Treibens einer – auch sprachlich – weitverzweigten Brüsseler Familie im Ostende der Nachkriegsjahre. Dass man die zwei Monate dauernden Schulferien im Juli und August in der „Perle der Seebäder“ oder auch benachbarten Orten an der Nordseeküste verbrachte, gehörte lange in Belgien zum guten Brauch – nicht nur der „oberen Zehntausend“.

Im Sommer Rummelplatz, im Winter Oase der Ruhe

De Kuyper zieht uns sprachlich gekonnt in diese Welt hinein, in der mehrere Generationen, Geschwister, Onkel und Tanten sowie Cousinen und Vetter alljährlich zusammenkommen. Dazu gehören die täglichen Aufenthalte und Spiele am Strand – bei fast jedem Wetter in der „guten Seeluft“. Dazu kommen die gemietete Strandkabine, aber auch die ständige Mückenplage, die Beschreibung der charakterlichen Eigenheiten von Familienangehörigen sowie – in Belgien noch immer eminent wichtig – die Verköstigungen. Dass der Familie in Ostende kein Fleisch aufgetischt wurde, dafür aber stets Kabeljau, Steinbutt, Krabben und andere Meeresfrüchte, war ebenso selbstverständlich wie das obligatorische Dessert.

So sehr das Mit-, manchmal auch das Gegeneinander in der Familie im Vordergrund steht, so sehr versteht es de Kuyper, dies in das Tableau des damaligen Ostende einzubetten: einer von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gezeichneten Stadt, vor deren Kulisse die Kanalfähren aus und nach Dover verkehrten.

Alles fügt sich zusammen zum Rummelplatz Ostende, seine von mehrstöckigen Bauten beherrschten Strandpromenade, seine Gaststätten und Geschäfte als Ziel britischer Touristen, die sich mal etwas gönnen wollten und konnten. Aber de Kuyper beschreibt auch, da die Hauptfigur auch im Winter und zu Ostern zu Verwandten „an die See“ geschickt wurde, jene ruhigeren Zeiten, in denen Ostende sich in eine Oase der Rohe zu verwandeln scheint und seine Bewohner wieder zu sich selbst finden können.

Es entsteht auch das Tableau einer Stadt, in der – nicht nur zur Sommersaison – die französische Sprache ungleich präsenter als heutzutage war. Dass damals die französischsprachige Brüsseler Tageszeitung „Le Soir“ Jahr für Jahr Spiele am Strand ausrichtete, ist heute kaum vorstellbar.

Und dennoch – wer heute durch die leider von zusätzlichen Hochhausbauten verunzierte Stadt läuft, kann sich in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückversetzt fühlen und – nach der Lektüre von „An der See“ – seiner Fantasie freien Lauf lassen. De Kuyper und Elsschot – und für deutschsprachige Leser auch dem Übersetzer Busse – ist es zu verdanken, dass die Zeiten, aus denen sich auch heute noch vielfach belgisches oder flämisches Selbstverständnis speisen, nicht in Vergessenheit geraten.

Willem Elsschot, Tschip, aus dem Niederländischen von Gerd Busse, Grenz-Echo Verlag, Eupen, 2024, 112 Seiten, 13,50 Euro. ISBN 9783 8671 2191 0

 

Eric de Kuyper, An der See, aus dem Niederländischen von Gerd Busse, 2024, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2024, 144 Seiten, 22 Euro. ISBN 9783 8031 1382 5

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