Belgien, Geschichte

Der Kummer von Antwerpen – Der Roman „De Draaischijf“ von Tom Lanoye

In seinem Roman „De Draaischijf“ (Die Drehbühne) zeichnet der flämische Schriftsteller Tom Lanoye meisterhaft ein vielschichtiges Tableau der deutschen Besatzungszeit in der Scheldestadt

Von Michael Stabenow

Die Aufarbeitung der deutschen Besatzungszeit und der belgischen Kollaboration mit Nazi-Deutschland gehört seit Jahrzehnten zu den Motiven der flämischen Literatur. „Klassiker“ ist der weit über die Grenzen Belgiens hinaus bekannte Roman „Het verdriet van België“ von Hugo Claus. Die deutschsprachige Übersetzung erschien zunächst unter dem Titel „Der Kummer von Flandern“. Inzwischen firmiert sie, im Einklang mit dem niederländischsprachigen Original, unter „Der Kummer von Belgien“.

Auch in jüngerer Zeit haben sich profilierte flämische Schriftsteller mit den dunklen Jahren auseinandergesetzt. 2020 schilderte Kristien Hemmerechts differenzierend das Schicksal zweier Familien, deren Mitglieder sich fast ausnahmslos auf die Seite der deutschen Besatzer geschlagen hatten („Het verdriet van Vlaanderen“ Buch und Bühnenstück – Belgieninfo). Kurz darauf wartete der Genter Autor Stefan Hertmans in seinem Werk „De Opgang“ (Lesetipp zum 70. Geburtstag von Stefan Hertmans – Belgieninfo), 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Aufgang“ erschienen, mit der deprimierenden, aber spannend geschriebenen Lebensgeschichte des führenden flämischen SS-Manns Willem Verhulst auf.

Nun komplettiert Tom Lanoye mit seinem knapp 500 Seiten langen Roman „De Draaischijf“ („Die Drehbühne“) den Reigen der Befassung flämischer Schriftsteller mit den Folgen der nationalsozialistischen Besatzung. Lanoye, der im kommenden Sommer 65 Jahre alt wird, gehört zweifellos zu den „Großen“ der niederländischsprachigen Literatur. Übersetzungen seiner Werke in die deutsche Sprache sind bisher leider Mangelware. Das gilt nicht zuletzt für den 2009 unter dem Titel „Sprakeloos“ („Sprachlos“) veröffentlichten und ins Französische und Englische übersetzten Roman, in dem der Schriftsteller einfühlsam den geistigen Verfall seiner Mutter schildert. Im deutschsprachigen Raum genießt Lanoye als Theaterautor einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Seine Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur lässt Lanoye anschaulich in „De Draaischijf“ einfließen. Es geht um das Schicksal dreier Menschen, die tatsächlich, wenn auch unter anderem Namen, gelebt haben. Im Mittelpunkt steht der Lebensweg des „Ich-Erzählers“ Alex Desmedt. Dass sich dahinter der 1992 verstorbene Antwerpener Schauspieler sowie Theater- und Orchesterintendant Joris Diels verbirgt, darauf gibt Lanoye mit einem im Vorspann zitierten Vierzeiler von Diels einen dezenten Wink.

Wie Diels kann auch Desmedt, dank oder trotz der Besatzungszeit, das lässt Lanoye in der Schwebe, eine erstaunliche Karriere vorweisen. Und dies, obwohl seine niederländische jüdische Frau Lea, eine begnadete Schauspielerin, während der Besatzungszeit nicht mehr auftreten darf.

Und da ist, als Dritter im heiklen Bunde, Rik. Der ältere Bruder von Alex ist Dirigent in Antwerpen. Er macht aus seiner nationalsozialistischen Gesinnung – inklusive schwarzer SS-Uniform, – keinen Hehl. Dennoch behält er drei jüdische Mitglieder im Orchesterensemble und ist auch seiner Schwägerin Lea immer wieder durchaus wohlgesonnen.

Man ahnt es bereits: Lanoye zeichnet ein einprägsames Bild der Besatzungszeit. Darin beschönigt er in keiner Weise die Grausamkeiten der Nazi-Herrschaft und ihrer flämischen Schergen. Gleichwohl ergibt sich ein Gesamttableau, bei dem sich nicht einfach zwischen Schwarz und Weiß differenzieren lässt.

Auch Alex Desmedt, so sehr er, anders als sein Bruder, Distanz zu den deutschen Machthabern zu wahren versucht, lässt sich immer wieder mit ihnen ein. Er nimmt es nicht nur hin, dass statt Puccini und Verdi, die er bevorzugt, nun Richard Wagner auf dem Spielplan steht und aus seiner Heimatstadt, zuvor noch fast liebevoll als „Babylon an der Schelde“ bezeichnet, nun unter seiner Regie ein „Bayreuth an der Schelde“ werden soll.

Der Leser mag geneigt sein, der Darstellung des „Ich-Erzählers“ Alex zu folgen, wenn dieser beklagt, dass er nicht einmal Herr über die Programmierung und sein Ensemble gewesen und seiner Frau Lea nur ein Schattendasein geblieben sei. In der Rückschau befindet Alex zu seiner Rechtfertigung: „Jeder zog und drückte an allen Seiten an mir, zu allem Möglichem, und ich musste in dem Mahlstrom immer weiter schippern und gegensteuern, um nicht kopfunter zu gehen.“

Ehe Lanoye die Leserschaft in diese Gefühlswelt der innerlich zerrissenen Hauptfigur des Romans einführt, steht, wie ein rhetorischer Paukenschlag, ein Anfangssatz, der Neugier weckt: „Ich hatte mir den Tag, an dem ich begraben wurde, ganz anders vorgestellt.“ Es folgen Eindrücke einer fiktiven und von vielen Honoratioren beigewohnten sowie der tatsächlichen – bescheidenen – Verabschiedung Desmedts auf dem Friedhof. Die ersten Seiten des Buchs muten – gewollt oder auch nicht – zuweilen etwas verwirrend an. Doch dann treten die Bruchstücke offen zutage, die Lanoye in „De Draaischijf“ mit eleganten Formulierungen zusammenfügt.

Herausgekommen ist ein Meisterwerk, das nicht nur durch seine anschauliche und klare Sprache besticht. Dem erfahrenen Theatermann Lanoye gelingt es, viele Szenen so eindrücklich zu schildern, dass der Leser das Gefühl hat, inmitten der Ereignisse zu stehen, auch von Greueltaten wie der Hatz auf jüdische Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Verschleppung.

Regelrecht vor sich sieht man „das Perlhuhn“, den namentlich nicht erwähnten und dem katholischen Bürgertum Antwerpens entstammenden „Kriegsbürgermeister“ Leo Delwaide. Ihm bescheinigt Lanoye durch die Worte Desmedts, er besitze „das blitzblanke Gebiss eines amerikanischen Filmstars, den Bauch eines flämischen Flachsbauern sowie die goldene Armbanduhr eines Brüsseler Immobilienhais.“ Delwaide, dessen Rolle erst in jüngerer Vergangenheit sehr kritisch beleuchtet worden ist, sollte auch in der Nachkriegszeit als Beigeordneter des Bürgermeisters für den Antwerpener Hafen noch fast zwei Jahrzehnte einen Schlüsselposten in der Scheldestadt innehaben.

Im Kontrast zu der Schilderung der finsteren Tage der Kollaboration macht Lanoye in seinem Roman auch abwechslungsreiche Streifzüge durch die europäische Kulturgeschichte, von Henrich von Kleist bis Harold Pinter, von Richard Wagner bis Jean-Paul Sartre. So erlebt man als Leser fast „hautnah“ die Entwicklung von Alex Desmedt mit. Sie reicht von seinem beruflichen Aufstieg im Antwerpen bis hin, nach einem seiner Frau Lea und offenbar einem Widerstandskämpfer zu verdankenden Freispruch bei einem zweiten Prozess, zu einer zweiten Blütezeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Regisseur in Den Haag sowie schließlich der Heimkehr an die Schelde.

Dramatischer Höhepunkt des Roman bildet eine – 1944 tatsächlich stattgefundene – „Mephisto“-Aufführung im zum „Deutschen Theater in den Niederlanden“ umgetauften Schauspielhaus der holländischen Stadt. Akribisch beschreibt Lanoye die Inszenierung des Stücks auf und vor der Bühne. Im Plüsch und Hochglanz des Theaters lassen sich wenige Monate vor der deutschen Niederlage die anwesenden nationalsozialistischen Größen Josef Goebbels und Hermann Göring anhimmeln. Dass sich der Gustav Gründgens nachempfundene Mephisto-Darsteller Kurt Köpler, „der begabtestes Schauspieler seiner Zeit“, vor der Aufführung an der Seite von Göring zeigt, will ihm Desmedt nicht verzeihen. Dennoch sagt er zur Mephisto-Darstellung: „Die war rundum genial“.

Dass Desmedt und einige Mitglieder des Antwerpener Ensembles damals einige Tage in Den Haag verbringen konnten, lag an einer bühnenbildnerischen Neuerung, die zuvor in Antwerpen – mehr schlecht als recht – erprobt worden war: der ursprünglich in Deutschland entwickelten „Drehbühne“. Wie gut das Experiment in Den Haag gelungen ist, lässt Lanoye im Ungewissen. Wichtiger ist im Roman die symbolische Rolle der Drehbühne. Sie steht für das Lavieren in der damaligen politischen Zwickmühle. Wenn eine Rolle ausgespielt sei, bleibe man auf der sich drehende Bühne stehen und verschwinde auf der unsichtbaren Rückseite. Oder man könne auf dem Podium vor der Bühne verharren, während ihre Drehbewegung eine neue Umgebung oder Situation hervorbringe.

Anders als sein Bruder Rik, der fast bedingungslos die Nazi-Rituale beherzigt und dafür letztlich mit seinem Leben büßt, jongliert Alex, „ein Maestro der Doppelrolle“, auf und neben seiner persönlichen Drehbühne. Er beruft sich auf das „Gesetz des geringsten Übels“ und rechtfertigt entsprechend, dass er als Schauspielhausintendant eine von seinem Bruder im Antwerpener Schauspielhaus organisierte Gedenkfeier für einen in Russland gefallenen flämischen SS-Mann nicht verhindert habe. Er wirft – im Rückblick nach dem Zweiten Weltkrieg – drei Fragen auf: “Was hätten andere an meiner Stelle getan? Was hätte es für Gutes hervorgebracht für die zahllosen, mir unterstellten Unschuldigen? Wäre es ihnen besser ergangen, wenn ich den Unmut der Militärverwaltung auf uns alle gelenkt hätte.“

Lanoye richtet nicht über Alex Desmedt. Aber will er dies den Lesern zumuten? Auch das bleibt in der Schwebe in seinem immer wieder fesselnden Buch, das auch den Titel „Der Kummer von Antwerpen“ tragen könnte. Das Selbstverständnis von Alex, nach seiner Ernennung zum Generaldirektor, kleidet der Schriftsteller in Verse aus der Arie des Prinzen Sou Chong in der Operette „Das Land des Lächelns“ von Franz Lehar: „Immer nur Lächeln/trotz Weh und tausend Schmerzen/Doch niemals zeigen/ sein wahres Gesicht.“ Wohltuend ist, dass Lanoye, anders als manchem flämischen Schriftsteller, keine orthographischen oder sonstigen Missgeschicke unterlaufen, wenn er, was er häufiger tut, Zitate in der Sprache Goethes verwendet.

Am Ende des Buchs legt Lanoye, dem der belgische Hang zum Surrealismus keineswegs fremd ist, Alex als Fazit von dessen Lebensgeschichte die Formulierung in den Mund: „Wenn ich nicht tot wäre, würde ich sagen: ich kann damit leben.“

Tom Lanoye, De Draaischijf, Uitgeverij Prometheus, Amsterdam, 2022, 480 Seiten, 25,99 EUR
ISBN 978 90 446 4932 1

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