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Der ostbelgische Bürgerdialog – ein Modell für Europa?

 

Fünf Jahre Erfahrungen mit einem Projekt zur Stärkung der Demokratie

Von Michael Stabenow

Das europäische Gesellschaftsmodell, das auf Grundwerten wie individueller Freiheit, Rechtssicherheit sowie der repräsentativen Demokratie beruht, ist derzeit erheblichen Erschütterungen ausgesetzt. Fast in allen Ländern des Kontinents sind rechtspopulistische und EU-kritische Kräfte auf dem Vormarsch. Der Rückhalt vieler seit langem etablierter Parteien bröckelt, allenthalben wächst im Zeitalter der sogenannten sozialen Netzwerke das Misstrauen gegenüber den traditionellen Medien als Informationsquelle.

Vor diesem Hintergrund gibt es eine Reihe von Versuchen, die repräsentative Demokratie durch deliberative Ansätze und eine stärkere unmittelbare Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in politische Entscheidungsprozesse zu stärken. Als Erfolgsmodell gelten die 2019 in der knapp 80000 Einwohner zählenden Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Belgiens auf den Weg gebrachten Bürgerversammlungen und –räte (Bürgerdialog als Demokratietraining – Belgieninfo).

Fünf Jahre später erschien es an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Dazu hatten die DG und der Vertretung des Landes Hessen bei der EU zu einer gemeinsamen Veranstaltung eingeladen, bei der drei Vertreterinnen des sogenannten permanenten Bürgerdialogs, DG-Parlamentspräsident Charles Servaty sowie Fachleute aus Wissenschaft, der Europäischen Kommission sowie der derzeitigen belgischen EU-Ratspräsidentschaft zu Wort kamen. Ihr Befund fiel einhellig positiv aus: Bürgerversammlungen ersetzten nicht Parlamente; sie stärkten vielmehr das Vertrauen in gewählte Politiker und die Strukturen der repräsentativen Demokratie.

Parlamentarische Demokratie reformieren und ergänzen“

Zu Beginn der vom Direktor des deutschsprachigen Belgischen Rundfunks (BRF), Alain Kniebs, moderierten Veranstaltung erinnerte der Ministerpräsident der DG, Oliver Paasch, an die Beweggründe für den „institutionalisierten permanenten Bürgerdialog“. Es gehe darum, die repräsentative Demokratie zu reformieren und zu ergänzen. „Die Kluft zwischen Politikern und Bürgerinnen und Bürgern wird immer größer“, stellte Paasch fest. Die in Ostbelgien mit dem Bürgerdialog gesammelten Erfahrungen zeigten, dass dieses Modell auf gutem Weg sei und auch international großes Interesse finde.

Anna Stuers, ständige Sekretärin des Permanenten Bürgerdialogs in Ostbelgien, erläuterte, die Bürgerversammlungen, deren Mitglieder ausgelost werden, seien „kein Parallelparlament“, sondern vielmehr eine „zusätzliche Inspirationsquelle“ für die Politik. Der Teilnehmerkreis sei „gut durchmischt“. Die zunächst in den Bürgerversammlungen diskutierten Themen und Anregungen werden danach im einmal monatlich tagenden und 24 Mitglieder umfassenden „permanenten Bürgerrat“ begleitet. Anschließend werden sie den Ausschüssen des Parlaments zur Befassung vorgelegt.

Bürgerdialog führt zu „mehr Tatendrang“ in der Politik

Zu den Ergebnissen zählen nicht zuletzt Empfehlungen zum „bezahlbaren Wohnen“, zur Pflege im Gesundheitswesen und zur Verbesserung des Unterrichtswesens. Die zuletzt eingereichten Themenvorschläge umfassen unter anderem den Umgang mit Trinkwasserreserven, den Lärmschutz, aber auch die Transparenz der Kommunalpolitik oder die grenzüberschreitende Anerkennung von Berufsabschlüssen.

DG-Parlamentspräsident Servaty hob besonders die auf Empfehlungen der Bürgerversammlung zurückgehende Ausstattung aller Sekundarschüler und Auszubildenden in Ostbelgien mit Laptops hervor. Der Bürgerdialog habe sich trotz manch anfänglicher Skepsis bewährt und nicht zuletzt der Politik „mehr Tatendrang“ beschert, sagte der sozialdemokratische Politiker.

Über ihre positiven Erfahrungen als Mitglieder der Bürgergremien berichteten auf der Veranstaltung in der Hessen-Vertretung die Lehrerin Isabelle François und die pensionierte Finanzbeamtin Mechtilde Neuens. François sagte, sie habe nun mehr Verständnis für die langwierigen Entscheidungsprozesse. Positiv sei der direkte Austausch zwischen Bürgern und Politikern sowie das Empfinden, „wirklich mitreden“ zu können. Bürgerratsmitglied Neuens, die sich stark für soziale Themen engagiert, haben die Erfahrungen mit dem Bürgerdialog sogar dazu veranlasst, bei den kommenden Wahlen zum Parlament der DG für die Sozialdemokraten zu kandidieren.

Verschiedene Modelle des Bürgerdialogs

Der Politikwissenschaftler Christoph Niessen von der Universität Antwerpen erläuterte unterschiedliche, international erprobte Modelle direkter Bürgerbeteiligung, unter anderem auch die Referendumspraxis in der Schweiz. Die aktuelle Herausforderung liege darin, Antworten auf das spürbare Misstrauen vieler Menschen in die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie zu finden. Der Vorteil der Bürgergremien liege darin, dass sich Themen in der Beratung detailliert ergründen ließen. Dies bleibe bei anderen Formen direkter Demokratie – wie etwa Referenden – aus; stattdessen könnten diese eher zu einer Polarisierung und zu Gräben in der Gesellschaft beitragen.

Der Koordinator der belgischen EU-Ratspräsidentschaft, Botschafter Hendrik Van de Velde, verwies darauf, dass deliberative Prozesse auch in die Europapolitik Eingang gefunden hätten. Dies gelte nicht zuletzt für die Einbeziehung von Vertretern der Zivilgesellschaft in die im Mai 2022 offiziell beendete Konferenz zur Zukunft Europas. Belgien werde ein Bürgerforum zu den Herausforderungen durch die Künstliche Intelligenz ausrichten, das mit 60 Teilnehmern dreimal an Wochenenden bis Ende April tagen werde. Erklärtes Ziel des Ratsvorsitzes ist es, die Ergebnisse „als Inspirationsquelle“ in die Diskussion der EU-Institutionen für die kommende, bis 2029 reichende Wahlperiode einfließen zu lassen.

Weitere Europäische Bürgerforen in diesem Jahr

Ivo Belet, von 2004 bis 2019 christlich-demokratischer belgischer EU-Parlamentarier und seither einer der engsten Mitarbeiter der für das Ressort Demokratie und Demographie zuständigen EU-Kommissarin Dubravka Šuica, berichtete, dass die Kommission sich durch die in Ostbelgien gesammelten Erfahrungen mit dem Bürgerdialog inspirieren lasse. „Es geht nicht darum, das Parlament zu ersetzen, sondern darum, die repräsentative Demokratie zu stärken“, sagte Belet.

Schon in den vergangenen Jahren hat die Kommission drei „Europäischen Bürgerforen“ mit 150 zufällig ausgewählten Teilnehmern ausgerichtet. Dabei ging es um die Themen “Verschwendung von Lebensmitteln”, „virtuelle Welten“ sowie „Lernmobilität“. Belet kündigte an, dass es in Kürze zwei weitere Bürgerforen geben werde – zu dem Themen Energieeffizienz und den Umgang mit Hassparolen. Ein Drittel der 150 Teilnehmer sei zwischen 16 und 25 Jahre alt. „Wir möchten beispielgebend vorangehen“, sagte der Kommissionsmitarbeiter. Anscheinend werden die ostbelgischen Erfahrungen auf der europäischen Ebene aufmerksamer verfolgt als in den anderen Regionen im eigenen Land.

Viermal Ja“

Und das Fazit zum ostbelgischen Bürgerdialog? Auf die Frage von Moderator Kniebs, ob er funktioniere, antwortete Stuers, die ständige Sekretärin des Bürgerdialogs, enthusiastisch „viermal mit Ja“. Es handele sich um eine dauerhafte Einrichtung, und es werde auf informierter Basis beraten. „Die Bürger fühlen sich ernst genommen“, sagte Stuers und verwies darauf, dass sich die Parlamentsausschüsse „ernsthaft“ mit den Empfehlungen auseinandersetzten. Schließlich – und viertens – verwies sie auf eine Erfahrung: „Die Politiker lassen sich inspirieren.“

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Hendrik Van de Velde
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Charles Servaty
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Ivo Belet
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Alain Kniebs, Mechthild Neuens

 

One Comment

  1. Wolfgang Gaede

    Danke M. Stabenow, wie immer gut informiert und sehr verständlich. Übrigens: der gute Artike ueber die Wahlmoeglichkeit bei der Wahl zum EU Parlament macht es für junge Erstwähler nicht einfach wegen der Technik.

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