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„Sire, geben Sie mir 50 Tage“

In Belgien ist eine Regierungskrise abgewendet worden – vorerst

Von Michael Stabenow

An der einen oder anderen Stelle in Brüssel sind schon die ersten Weihnachtsbeleuchtungen aufgetaucht. Im Regierungsviertel herrscht dagegen Katerstimmung. Premierminister Bart De Wever scheint mit seinem – gern in der Öffentlichkeit ausgebreiteten – Latein zwar nicht am Ende zu sein. Aber an seinem Geschick, die fünf Parteien der Arizona-Koalition in der Haushaltspolitik zu einem Kompromiss zu führen, gibt es zunehmend Zweifel.

Die Hoffnung, durch ein neues Sparpaket im Umfang von 10 Milliarden Euro die Staatsfinanzen einigermaßen in Einklang mit dem stabilitätspolitischen Auflagen der Europäischen Union zu bringen, erwies sich als trügerisch. Am Donnerstag musste De Wever nach gescheiterten Verhandlungen mit den aus den Reihen der fünf Koalitionsparteien stammenden stellvertretenden Regierungschefs seine Ankündigung wahrmachen, mangels Einigung „dem König Bericht zu erstatten“. Hinter dieser Formel, so der allgemeine Eindruck der vergangenen Tage, sollte die Drohung stehen, dem Staatsoberhaupt König Philippe den Rücktritt der Regierung anzubieten und so Druck auszuüben.

Vorgezogene Neuwahlen kämen zur Unzeit

In den Worten des Regierungschefs schien auch die Aussicht auf vorgezogene Parlamentswahlen mitzuschwingen. Bei Betrachtung der jüngsten Meinungsumfragen ist das freilich eine Perspektive, die kaum nach dem Geschmack von De Wevers flämischen Nationalisten (N-VA) sein kann. Auch für die anderen vier Koalitionspartner, die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) und Sozialisten (Vooruit) sowie die beiden französischsprachigen Partner, die Liberalen (MR) und die zentristische Partei „Les Engagés“, sind die Erkenntnisse der Demoskopen alles andere als rosig.

De Wever pocht auf Einsparungen von 10 Milliarden Euro

De Wever hält bisher trotz des Gegenwinds aus den Reihen der Koalition unbeirrt an dem „10 Milliarden-Ziel“ fest. Insbesondere MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez, der zwar nicht selbst am Verhandlungstisch sitzt, aber ständig mit öffentlichen Erklärungen Unmut innerhalb und außerhalb der Arizona-Koalition erregt, zeigt sich kompromisslos. Vor allem die vom Regierungschef angestrebte Vereinheitlichung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf neun Prozent – statt bisher sechs oder zwölf Prozent – blockiert Bouchez. Tatsächlich könnte die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Güter des täglichen Bedarfs, aber auch zum Beispiel auf Renovierungsarbeiten in Altbauten, Milliarden in die Staatskasse spülen.

MR-Chef Bouchez: „Wir sind dabei, die Wirtschaft zu töten.“

Bouchez stellte jedoch am Donnerstag abermals klar, seine Partei sei nicht in die Regierung eingetreten, um die Bürgerinnen und Bürger des Landes zu schröpfen. Bei fast jeder Gelegenheit erinnert er daran, dass seine Partei mit einem Stimmenanteil von rund 30 Prozent im südlichen Landesteil bei der Wahl im Juni 2024 einen klaren Auftrag erhalten habe. Wer die Mehrwertsteuer erhöhe, sorge dafür, dass noch mehr Menschen Einkäufe jenseits der Grenze tätigten. Ohnehin sorge die hohe belgische Steuerlast dafür, dass es Unternehmen und wohlhabende Bürgerinnen und Bürger ins Ausland zöge. „Wir sind dabei, die Wirtschaft zu töten“, sagte Bouchez im Parlament.

De Wevers N-VA und die Bouchez-Partei stehen sich wirtschaftspolitisch eigentlich relativ nahe. Es fällt zudem auf, dass der MR-Vorsitzende auch jetzt wieder versicherte, wie sehr er den Regierungschef schätze und dass die Arizona-Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2029 halten werde. Dennoch ist das Unbehagen über den zuweilen hyperaktiven Mann aus Mons in De Wevers Partei groß. So liebäugelt Bouchez immer wieder mit der Möglichkeit, seine Partei auch in Flandern zur Wahl antreten zu lassen – mit der Perspektive, der N-VA zumindest ein wenig das Wasser abzugraben.

Konzessionsbereitschaft der Sozialisten

Auch vielen Kritikern in den Reihen der anderen drei Koalitionspartner erscheint Bouchez als Spielverderber. Zwar ist vor allem für Vooruit, als einzige Arizona-Partei politisch links der Mitte verortet, die von De Wever nach wie vor angestrebte einmalige Aussetzung der automatischen Koppelung von Löhnen und Gehältern an die Inflationsrate eine kaum zu schluckende Kröte. Entgegenkommen zeigen die flämischen Sozialisten hingegen bei der Forderung, das Problem der sogenannten Langzeitkranken anzugehen. Derzeit fallen in Belgien mehr als eine halbe Million Menschen in diese Kategorie. Offiziell als arbeitslos registriert waren zuletzt dagegen weniger als 300.000 Männer und Frauen.

Wie De Wever am Donnerstag im Parlament erläuterte, tritt ohne fristgerechte Verabschiedung des Haushalts nicht nur die sogenannte Zwölftelregelung in Kraft. Grundsätzlich bedeutet dies, dass sich die Ausgaben jeweils dem Niveau des entsprechenden Vorjahreszeitraums entsprechen müssen. Der Regierungschef stellte jedoch auch klar, dass zentrale, im Sommer zumindest prinzipiell ausgehandelte Koalitionsbeschlüsse erst später greifen können. Dies gilt für die Einschnitte im Rentensystem und die geplante „Reichensteuer“ auf Kapitalgewinne.

Eine Frist bis Weihnachten – aber nicht des Königs

Sire, geben Sie mir 50 Tage“, sagte De Wever im Parlament. Er rief die Arizona-Parteien dazu auf, bis Weihnachten eine Einigung über die Haushaltsplanung zu erzielen. Eine entsprechende Frist hat König Philippe, dessen politischer Spielraum ohnehin sehr eng ist, jedoch nicht gesetzt. „Er dringt gegenüber allen beteiligten Parteien darauf, ihre Verantwortung zu übernehmen und ihre Differenzen zu überbrücken, damit das Land so schnell wie möglich über einen klaren Haushaltskurs für die kommenden Jahre verfügt“, verlautete aus dem Königshaus.

Zweifel an der Führungsstärke De Wevers

Ob solcherlei Appelle fruchten und sich die Arizona-Streithähne in der Vorweihnachtszeit noch zusammenraufen werden, steht in den Sternen. Anders als jetzt könnte es bei einem abermaligen Scheitern tatsächlich zu einem Rücktrittsangebot De Wevers kommen, das König Philippe dann wohl schwerlich ablehnen könnte. Mancherorts ist zu hören und zu lesen, dass dem Regierungschef ein solches Szenario gar nicht so ungelegen käme, könnte der flämische Nationalist das Scheitern doch als Beweis dafür anführen, dass Belgien nicht funktioniere und deshalb nicht in der jetzigen Gestalt fortbestehen könne. Umgekehrt häufen sich aber auch Stimmen, wonach die Zweifel an der Führungskraft des gerne selbstsicher auftretenden De Wever gewachsen sind. Bis Weihnachten bleibt ihm Zeit, seine Kritiker eines Besseren zu belehren.

Auf Wohlwollen aus den Reihen der Opposition – vom rechten bis zum linken Rand – kann De Wever dabei nicht zählen. Besonders scharf äußerte sich der Grünen-Parteichef Bart Dhondt. „Klimapolitik, nationale Sicherheit, Haushalt, Wohlbefinden der Bevölkerung: anscheinend weniger wichtig als Egos und der Profilierungsdrang der Regierungsparteien. Peinlich und vollkommen unverantwortlich“, schrieb Dhondt auf der Internet-Plattform Bluesky

Regierungskrise käme für Belgien gerade jetzt ungelegen

Eine Regierungskrise käme – nicht nur für De Wever – auch ungelegen in einer Zeit, in der die belgische Regierung zögert, der von den übrigen EU-Partnern befürworteten Freigabe der bei dem in Brüssel ansässigen Finanzdienstleister Euroclear eingefrorenen russischen Guthaben in Höhe von 140 Milliarden Euro zur Unterstützung der Ukraine zuzustimmen. In den belgischen Medien kursieren bereits Vermutungen, dass die zuletzt an verschiedenen Flughäfen und militärischen Einrichtungen des Landes gesichteten Drohnen als eine Art Warnung und Ermahnung Moskaus an die Adresse Belgiens zu verstehen seien. Demnach solle sich das Land der Freigabe der 140 Milliarden Euro trotz des Drängens der anderen EU-Staaten weiter widersetzen.

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